Orte des Dialogs und der gemeinsamen Andacht

Vor zwanzig Jahren endete der libanesische Bürgerkrieg. Er hinterließ eine politisch und religiös zutiefst gespaltene Gesellschaft. Doch fernab zahlreicher offizieller Dialogbemühungen läuft seit jeher unter Gläubigen ein spontaner Dialog mit alten Traditionen. Einzelheiten aus Beirut von Mona Naggar

Auzai-Moschee im Süden Beiruts; Foto: Mona Naggar
Überkonfessionelles Heiligtum: "Auch viele Christen kommen in die al-Auzai Mosche", erklärt der Imam der Moschee, Hisham Khalifa.

​​Auzai ist ein ärmlicher Vorort im Süden Beiruts. Die Hauptstraße, die auf beiden Seiten von kleinen Handwerksläden gesäumt wird, ist mit vielen Schlaglöchern übersät. In der Parallelstraße unweit des Meeres liegt eine kleine unscheinbare Moschee. Im Innern, in einem kleinen Raum, der mit Teppichen ausgelegt ist, befindet sich das Grab von Abdalrahman al-Auzai (707-774). Er hat sich in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts als Jurist einen Namen gemacht und begründete eine Rechtsschule, die nach ihm benannt ist. Hinter dem Gitter, das das Grabmal umgibt, liegen zahlreiche Geldscheine, libanesische Liras und amerikanische Dollars.

Hisham Khalifa ist seit nunmehr 20 Jahren Imam und Prediger der al-Auzai-Moschee. Bereits sein Vorgänger wusste zu berichten, dass al-Auzais letzte Ruhestätte nicht nur von Muslimen aufgesucht wurde. "Auch viele Christen kommen hierher", erklärt Khalifa. "Mönche, religiöse Würdenträger, aber auch normale Gläubige."

Ein islamischer Fürsprecher für die Christen

Der Imam sitzt in seinem klimatisierten Büro und erklärt die Gründe für die religionsübergreifende Popularität Abdalrahman al-Auzais. Ein abbasidischer Herrscher soll als Rache gegen christlichen Widerstand befohlen haben, alle Christen aus dem Libanon zu vertreiben. Al-Auzai soll daraufhin einen Brief an den Kalifen verfasst haben, in dem er – basierend auf den Koran und dem islamischen Recht – argumentiert, dass dieser Befehl dem Islam widerspreche. Der Herrscher soll seinen Fehler eingesehen und den Befehl zurückgezogen haben. Diese Erzählung, die von einer Generation zur nächsten weiter tradiert wird und im kollektiven Gedächtnis der Libanesen haften geblieben ist, legte den Grundstein für die Rolle al-Auzais als Fürsprecher der Christen.

Hisham Khalifa berichtet, dass sogar der ehemalige libanesische Staatspräsident Charles Helou, ein maronitischer Christ, mehrmals in der al-Auzai-Moschee war und am Grab Gelübde abgelegt haben soll. Dafür habe er Kerzen, Öl und Geld gespendet.

Ein Kult lebt weiter

Ortswechsel. Ungefähr 40 km nördlich von Beirut, hoch im Libanongebirge liegt im Dorf Afqa die Quelle des Nahr Ibrahim. Der Fluss, auch Adonis-Fluss genannt, entspringt aus einer Grotte. An dieser Stelle soll es in hellenistischer Zeit ein Adoniskult gegeben haben, eine Feier von Tod und Wiederauferstehung.

Das Becken an der Quelle des Adonis-Flusses in Afqa; Foto: Mona Naggar
Nicht nur ein schöner Anblick: Das Becken an der Quelle des Nahr-Flusses gilt vielen Christen als heilig.

​​Am Ufer des Beckens, in dem das Quellwasser aufgefangen wird, liegt auf einer kleinen Anhöhe ein großer Haufen alter Steinquader – die Überreste eines Aphrodite-Tempels. Eine kleine Treppe führt durch Gestrüpp in eine Senke. An der Wand sieht man eine kleine Höhle, mit Spuren vieler abgebrannter Kerzen.

Sahar, ein junges Mädchen aus Afqa, führt die Besucher zu dieser schwer zugänglichen Stelle. Es ist ein Marienheiligtum, sagt sie. Menschen aus ihrem Dorf und aus umliegenden Dörfern würden hierher kommen, um von Krankheiten geheilt zu werden. Besonders bei Fiebererkrankungen würde ein Besuch bei der heiligen Jungfrau helfen. In der Gegend um Afqa leben hauptsächlich Maroniten und Schiiten.

Spiegel einer multireligiösen Gesellschaft

Im Libanon, in dem 17 islamische und christliche Konfessionen offiziell anerkannt sind, gibt es eine Vielzahl von religiösen Heiligtümern. Aber längst nicht alle werden von den Anhängern aller Religionen genutzt. Die kleine Höhle in Afqa und das Grab des Imam al-Auzai gehören zu den heiligen Stätten, die sowohl von Christen als auch von Muslimen aufgesucht werden.

Nour Farra-Haddad hat über interreligiöse Pilgerstätten im Zedernstaat geforscht. Sie zählt landesweit rund dreißig religiöse Stätten, die von Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften gemeinsam genutzt werden. Farra-Haddad hat unzählige Interviews mit Besuchern geführt, nach Religionszugehörigkeit und Motivation gefragt. Keiner der Gläubigen, so die Forscherin, versuche die religiöse Identität zu verbergen – die Anbetung von Heiligen aus anderen Religionskreisen wird als natürlich empfunden.

Reste des Aphrodite-Tempels in Afqa: Foto: Mona Naggar
Für Nour Farra-Haddad, die über interreligiöse Pilgerstätten im Libanon geforscht hat, sind die gemeinsam genutzten Pilgerstätten "lebendige Beispiele für alltäglichen, gelebten Dialog."

​​Die Motive der christlichen und muslimischen Besucher seien außerdem identisch. Die Menschen beten um Heilung von Krankheiten, erklärt die Anthropologin an der Universität Saint Josef in Beirut, um Schutz, um Hilfe bei Liebeskummer oder Erfolg bei schulischen oder akademischen Prüfungen. Dafür seien sie bereit, Geld- oder Sachspenden zu hinterlassen. Die Bekanntheit eines Heiligtums hängt von seinem "Erfolg" ab, das heißt, inwieweit die Bitten der Gläubigen ihrer eigenen Einschätzung nach Erfüllung finden.

Farra-Haddad teilt die gemeinsam genutzten heiligen Orte in mehreren Kategorien. Wie die Höhle in Afqa, gäbe es Orte, die seit Jahrtausenden als heilig gelten. Die Tradition setze sich fort und passe sich den veränderten religiösen Verhältnissen an. Im Bewusstsein der Menschen wird dem Ort eine besondere Bedeutung zugemessen.

Populäre Heilige

Orte, die religiösen Figuren und Propheten geweiht sind, die sowohl im Islam als auch im Christentum vorkommen und verehrt werden, wie etwa Moses, Noah, Umran und Maria, sind dafür prädestiniert, ein religiös gemischtes Publikum anzuziehen. Viele der christlichen Marienheiligtümer im Libanon werden auch von Muslimen besucht. Das bekannteste Beispiel ist Harissa.

Die riesige Mariastatue aus weißem Stein steht auf einem Berg, neben ihr eine imposante Kathedrale. Beides kann man bereits von der Autobahn kurz vor der Küstenstadt Jounieh sehen. Muslime und Christen haben zwar jeweils eine eigene Vorstellung von Maria und ihrer Bedeutung, ihr Verhalten am Heiligtum ist sich aber sehr ähnlich.

Eine weitere Kategorie sind die "Nationalheiligen", wie etwa Mar Charbal oder die Heilige Rifqa. Es handelt sich um libanesische Christen, denen Wunderheilungen zugesprochen werden und die von der katholischen Kirche heilig gesprochen wurden. Sie gehören eindeutig einer Konfession an, sind aber im Libanon weit über ihre eigene religiöse Gemeinschaft als fromme und gottesnahe Menschen anerkannt.

Vertikaler und horizontaler Dialog

Für Nour Farra-Haddad sind die gemeinsam genutzten Pilgerstätten lebendige Beispiele für alltäglichen, gelebten Dialog: "Wir haben den Bürgerkrieg erlebt und viele Libanesen haben schmerzliche Erfahrungen machen müssen. Diese Orte ziehen Menschen verschiedener Konfessionen und unterschiedlicher sozialer Herkunft an. Sie suchen diese Orte aus dem gleichen Bedürfnis heraus auf – sie suchen Hilfe. Gleichzeitig knüpfen sie Kontakte untereinander, geben sich Ratschläge. Sie teilen etwas miteinander. Das alles hinterlässt Spuren."

Hisham Khalifa, Imam der Al-Auzai-Moschee; Foto: Mona Naggar
Hisham Khalifa hat zwar Bedenken gegen das Anbeten von Heiligen, doch ein Zusammenkommen der unterschiedlichen Konfessionen befürwortet er.

​​Die Anthropologin nennt das einen horizontalen und vertikalen Dialog, der ebenso Ernst genommen werden sollte wie der offiziell geführte Dialog auf akademischer oder institutioneller Ebene.

Hashim Khalifa, Imam der al-Auzai Moschee, hat starke Bedenken gegen den Brauch, Heilige als Fürsprecher bei Gott einzusetzen. Trotzdem sieht er es als Zeichen des gelungenen Zusammenlebens, wenn Muslime christliche Orte aufsuchen und umgekehrt: "Ein Muslim würde nicht dorthin hingehen, wenn er Angst hätte oder Schaden befürchten würde. Dort wird er gastfreundlich aufgenommen und findet einen Ort des Friedens und der Ruhe."

Mona Naggar

© Qantara.de 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

Qantara.de

Religionszugehörigkeit im Libanon
Konfessionalismus als Auslaufmodell
Im Libanon gilt die starke Stellung der Religion in Politik und Alltag als ein wesentliches Hindernis für dauerhaften inneren Frieden. Eine Studie von Anne Francoise Weber untersucht den Alltag und die Einstellungen libanesischer Familien, in denen mehrere Konfessionen aufeinander treffen. Martina Sabra stellt die Erkenntnisse vor.

Interview mit Fawwaz Traboulsi
Ein kollektives Geschichtsbuch für den Libanon
Bekannt ist der Libanon als Schweiz des Nahen Ostens und als Schauplatz für Stellvertreterkriege. In seinem neuen Buch beleuchtet der Historiker und Politologe Dr. Fawwaz Traboulsi die wechselvolle Geschichte des Zedernstaates. Mona Sarkis sprach mit dem Autor.

Interkulturelles Begegnungszentrum im Libanon
Dar Assalam - Das Haus des Friedens
Im libanesischen Schuf-Gebirge entstand vor zehn Jahren eine einzigartige interkulturelle Begegnungsstätte. Individualreisende und Gruppen sind dort eingeladen, sich mit der Nachkriegsrealität des Libanon auseinanderzusetzen oder Arabisch zu lernen. Martina Sabra stellt das Zentrum vor.