Kairo Komplott: Intrigen an der Al-Azhar
Anlässlich einer Aufführung seines Films "Boy from Heaven" fragte der schwedisch-ägyptische Regisseur Tarik Saleh, ob jemand der Anwesenden Arabisch spreche. Als das einige bejahen, entschuldigte sich Saleh dafür, dass seine Schauspieler bisweilen Schwierigkeiten mit dem ägyptischen Dialekt hätten.
Seit Saleh 2017 Regie beim Film "Die Nile Hilton Affäre“ führte, darf er nicht mehr in Ägypten drehen. Das machte es für ihn schwierig, für "Boy from Heaven" die passende Besetzung und geeignete Drehorte zu finden. Saleh arbeitete für den Film mit Schauspielern aus verschiedenen arabischen Ländern und aus der Diaspora zusammen. Nur einige beherrschen den ägyptischen Dialekt richtig gut. Manche haben gar Schwierigkeiten mit der arabischen Sprache.
Die Hauptfigur des Films, Adam, ist ein junger Mann aus einer alteingesessenen Familie von Fischern aus El Manzala, der sich dank eines Stipendiums an der ehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo einschreiben darf – einer der ältesten islamischen Hochschulen der Welt. Als er in Kairo eintrifft, gerät er in den Kampf um die Nachfolge des gerade verstorbenen Großimams.
Neben der sprachlichen Umsetzung hat auch die Kameraführung des Films Schwächen, obwohl die Bildsprache eigentlich seine größte Stärke ist. Das geübte Auge erkennt beim Betrachten der Innenhöfe und Säulengänge der vermeintlichen Al-Azhar-Moschee, die die Kulisse für einige atemberaubende Szenen bildet, dass die Gebäude nichts mit der Architektur aus der ägyptischen Fatimiden-Dynastie zu tun haben. Die kleinen Kuppeln rund um den Innenhof der großen Moschee sind vielmehr osmanisch und stammen aus einer der großen Moscheen Istanbuls.
Die Ignoranz des Westens gegenüber dem Islam
Regisseur Tarik Saleh sagte in einer Pressemitteilung, der Westen habe Angst vor dem Islam und wisse doch nicht viel über ihn. Die Aussage lässt darauf schließen, dass er diesen Missstand mit "Boy from Heaven“ beheben will. Doch die Tatsache, dass der Film bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, erklärt sich exakt aus diesem Unwissen.
Natürlich kann man den Produzenten des Films für die Schwierigkeiten in Bezug auf Dialekt und Drehorte entschuldigen. Es gibt zwar technische Lösungen zur Bewältigung solcher Herausforderungen, aber dem stehen die hohen Kosten entgegen. Was aber schwer nachvollziehbar bleibt, sind Dutzende irritierender Details, die nicht auf Unkenntnis, sondern auf Bequemlichkeit bis hin zur Nachlässigkeit schließen lassen.
Warum tragen die ägyptischen Polizisten und Soldaten im Film nicht die richtigen Uniformen? Warum sind die Turbane der Al-Azhar-Gelehrten nicht als Zeichen der Bescheidenheit kurz, sondern länger und schmaler wie die der Osmanen? Wie kann es sein, dass ihre Bärte nicht nach der Tradition der Al-Azhar gestutzt sind, sondern bis zur Brust reichen?
Wie um Himmels willen soll eine aus der Vogelperspektive gezeigte betende Menschenmasse in eindeutig malayischen Gewändern und mit südostasiatischen Gesichtszügen als Gebetsszene in Kairo durchgehen?
Neue orientalistische Klischees
Tarik Salehs Film lässt sich nicht leicht einordnen. Im Unterschied zu älteren Filme, die orientalistische Klischees bedienen – vor allem aus Hollywood – erweckt "Boy from Heaven“ zunächst den Eindruck der Authentizität; nicht zuletzt wegen der ägyptischen Wurzeln des Regisseurs, der Nationalität der Darsteller und der Wahl der Sprache.
Arabisch bleibt nicht mehr im Hintergrund, sondern ist als einzige Alltagssprache in diesem Film durchgängig präsent. Nicht "der Islam" wird in den Handlungssträngen als Problem gesehen, sondern die politische Macht für die Korrumpierung der Religion und ihrer Institutionen verantwortlich gemacht.
Der Film zeigt ein dramatisches und anhaltendes Ringen um die Unabhängigkeit der religiösen Institution Al-Azhar. Diese Sicht führt zwar in die Irre, bedient aber mit seinen Anspielungen auf das repressive Regime von Abdel Fattah al-Sisi ein wohlmeinendes, "anti-orientalistisches“ Anliegen.
Tatsächlich finden sich einige Motive der Figuren auch in der heutigen Politik wieder. Dennoch sollte man bei der Entlarvung des Orientalismus nicht orientalistischer vorgehen, als es der ursprüngliche Gegenstand tut. Andernfalls sehen wir im Ergebnis einen doppelten Orientalismus oder eine orientalistische Darstellung des Orientalismus...
In einem aufschlussreichen Interview hat der Regisseur erzählt, die Idee zu seinem Werk sei ihm bei der erneuten Lektüre des Romans "Der Name der Rose“ des italienischen Autors Umberto Eco gekommen.
Er habe sich dann gefragt: "Wie wäre es, wenn eine derartige Geschichte in einem islamischen Kontext erzählt würde?“ Der Bezug zu Umberto Eco zeigt sich schon in den ersten Szenen, insbesondere als Sicherheitsleute in Zivil einen Azhar-Studenten im Hof der Moschee mit einem Schwert töten.
Kultureller Mix
Die nächtliche Finsternis, die engen Gänge, die zum Schauplatz des Mordes werden, und die verdeckte Kameraführung erinnern an Ecos historischen Kriminalroman. Saleh spinnt seinen Erzählfaden entlang der Vorlage, die Eco in der Benediktinerabtei als Ort seiner Romanhandlung gesetzt hat.
Vielleicht inszeniert er den historischen Kriminalroman aber auch nur in einem "islamischen Kontext“. Das passt ganz gut zur orientalistischen Vorstellung, die im zeitgenössischen arabischen Osten das überholte Abbild eines mittelalterlichen Westens sieht.
Dennoch ist der Film ein außergewöhnliches visuelles Erlebnis. Er fängt die Schnittpunkte zwischen Motiven der islamischen Architektur und den Massen meist uniformierter Studenten mit Turban in spektakulären Szenen ein.
Die Bilder entlarven auf ästhetisch geschickte Weise, wie die Obrigkeit die Menschen lenkt und ihre Körper beherrscht.
Postmoderne Vermischung kultureller Traditionen
Die Abfolge der Ereignisse und der Rhythmus des Spannungsbogens bleiben bis zum letzten Viertel des Films straff. Erst gegen Ende fällt der Erzählbogen etwas ab. Der Palästinenser Tawfiq Barhoum ist in der Titelrolle des Adam bemerkenswert gut. Er achtet auf kleinste Details der Körpersprache und entlarvt mit brüchiger Stimme, wie Macht den Einzelnen korrumpiert. Das Individuum wird so zum Instrument in einem System aus Verleumdung und Verrat, das sich immer wieder selbst aufzehrt.
"Boy from Heaven“ ist ein klassischer Crossover-Film, der verschiedene kulturelle Elemente willkürlich vermischt. Der Regisseur greift dabei auf formelhafte und klischeebelastete Vorlagen zurück, die in der globalen Massenkultur präsent sind. Die Zusammenstöße zwischen den Azhar-Studenten in der Mensa der Universität sind durchaus gekonnt inszeniert, stammen aber in ihrer Machart direkt aus amerikanischen "Gefängnis“-Filmen.
Die Wahl des Großimams mit Stimmzetteln, die in einem Tontopf gesammelt werden, ähnelt dem vatikanischen Wahlverfahren im Film "Die zwei Päpste“ von Fernando Meirelles.
Überdies erinnern die vielen Bilder von Studentengruppen in den Höfen der Großen Moschee an Szenen in Martin Scorseses Film "Kundun“ über den Dalai Lama, das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus. Die Filmemacher enttäuschen auch in diesem Punkt nicht: Der Soundtrack in einer jener Totalen aus der Vogelperspektive auf eine Schar von Azhar-Schülern entstammt dem charakteristischen Kehlkopfgesang buddhistischer Mönche.
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton.
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Lammers.