"Der Druck auf türkische Künstler wächst"
Sie haben vor Kurzem Ihre Graphic Novel "Dare to Disappoint: Growing up in Turkey" auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin vorgestellt. Es handelt sich dabei um einen autobiographischen Comic, der Ihre Belastungen als Heranwachsende inmitten politischer und kultureller Konflikte in der Türkei beschreibt. Das Buch erschien bereits 2015 und wurde hochgelobt vom "Guardian" und der "New York Times". Worin bestand für Sie die größte Herausforderung des Erwachsenwerdens in der Türkei?
Özge Samancı: Ich wollte wirklich wissen, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Manche Leute berührt diese Frage zwar nicht, für mich dagegen war sie zentral. Ich fand darauf keine klare Antwort, und die Erwartungen der Familie, der Verwandten, Lehrer und der Gesellschaft insgesamt waren groß. Wir leben in einer militaristischen, konservativen und wirtschaftlich schwachen Kultur. Auf der einen Seite wollte ich es den Menschen, die ich liebte, recht machen, auf der anderen Seite aber das machen, was ich wollte. Wobei ich aufgrund des Drucks gar nicht wusste, was ich eigentlich genau wollte.
Inwiefern reflektiert Ihre Graphic Novel vor allem die Schattenseiten türkischen Gesellschaft?
Samancı: Es gibt verschiedene Aspekte, die den Comic-Band einzigartig machen. Die Türkei ist heute gesellschaftlich stark polarisiert. Man muss einer bestimmten politischen "Denkschule" angehören. Entweder gilt man als politisch links oder rechts, als radikaler Islamist oder als praktizierender Muslim. Die Menschen in der Türkei denken in festen Kategorien und versuchen auch alle anderen in diese Schubladen einzuordnen. Sie erwarten, dass man so sein sollte wie sie selbst. Für mich stellt dies das größte Problem in Hinblick auf die Türkei dar. Andere Gesellschaften sind da viel weiter, haben deutlich größere Fortschritte gemacht. Aber die Türkei kämpft damit immer noch.
Ihr Comic wird häufig mit Marjan Satrapis Graphic Novel "Persepolis" verglichen. Satrapi lebt in Paris, Sie seit 2003 in den USA. Fühlt sich Ihr Leben angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in der Türkei heute nicht wie eine Fortsetzung des Lebens im Exil an?
Samancı: Was die Ähnlichkeit mit Satrapis "Persepolis" angeht, so hatte ich mich bereits vor rund 15 Jahren dazu entschlossen, einen autobiographischen Comic zu zeichnen. Damals hatte ich "Persepolis" noch nicht gesehen. Meine Buch-Idee entstand ursprünglich aus dem Wunsch heraus, einem Freund ein Geschenk zu machen – und so zeichnete ich zunächst nur ein paar Bilder und Anekdoten in mein Notizheft. Dann fotokopierten es einige Leute und schließlich wurde es unter meinen Freunden berühmt. Ich entdeckte die Macht gelebter Geschichten. Ich war naiv, weil ich dachte, ich hätte dieses Medium erfunden.
2003 kam ich in die USA und besuchte einen Kurs über Comics und Comic-Erzählungen, und der Lehrer kam zu mir und legte den "Persepolis"-Comic vor mir auf den Tisch. Und dies war für mich der Beweis, dass das, woran ich dachte, möglich war. "Persepolis" bewies, dass eine bestimmte Kultur auch für andere Kulturen interessant sein kann.
Allerdings waren Satrapis Lebensumstände wohl viel härter als meine. Sie wuchs in einem wirklichen Krieg auf und ging dann ins Exil. In ihrem Land hatte eine religiöse Revolution stattgefunden. In der Türkei ist die Situation zwar schwierig, aber längst nicht so dramatisch wie im Iran. Ich kann jederzeit in die Türkei reisen – auch wenn ich nicht weiß, was die Zukunft noch bringen wird.Was hat Sie dazu motiviert, auch für Satiremagazine in der Türkei zu zeichnen?
Samancı: Die Türkei braucht Witz und Satire, um sich von ihrer immer schweren Last zu befreien. Leider wenden sich Satiremagazine in der Türkei hauptsächlich an Jugendliche im Schulalter. Ich wünschte, es gäbe einen Weg, ein größeres Publikum zu erreichen. Meine Zeichnungen für das wöchentliche Satiremagazin "LeMan" waren nicht direkt politisch. Es handelte sich vielmehr um Anekdoten, um Momente aus dem alltäglichen Leben. Meine Zeichnungen sind erst in den letzten vier Jahren politisch geworden, auf eine subtile Art politisch.
Kürzlich haben Sie eine Zeichnung der inhaftierten türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan im Rahmen Ihres Projekts "Ordinary Things" veröffentlicht und beobachten seit Langem die Situation von Schriftstellern und Künstlern in der Türkei. Inwiefern hat sich deren Spielraum in jüngster Zeit verringert?
Samancı: Nach dem versuchten Militärputsch folgte der Ausnahmezustand, wobei nicht nur die Verantwortlichen des Putsches bestraft wurden, sondern fortan jeder Gefahr lief, verhaftet zu werden. Es ist eine schwierige Situation, da ich mir nicht sicher bin, dass alle, die festgenommen wurden, etwas mit dem Putschversuch zu tun haben. Zu ihnen zählt auch Aslı Erdoğan. Weil sie eine andere Meinung als die Machthaber in der Türkei vertritt, wird sie dafür bestraft. Die Wissenschaftlerin Esra Mungan ist ein weiteres Beispiel. Als die Regierungspartei AKP begann, die Unterstützung ihrer Anhängerschaft zu verlieren, wurde ihre Haltung immer restriktiver, was schließlich zum heutigen Ausnahmezustand geführt hat. Es gab immer das Problem, dass sich Akademiker, Künstler und Denker in der Türkei niemals völlig frei gefühlt haben, doch der Druck auf sie ist heute gewachsen.
Das Interview führte Ceyda Nurtsch.
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