Ein Gebot der Menschlichkeit

Christian Springer ist Gründer der Hilfsorganisation "Orienthelfer", die seit Beginn des Aufstandes gegen das Assad-Regime den syrischen Flüchtlingen in Jordanien und im Libanon hilft. Samira Sammer sprach mit ihm über die humanitäre Lage in den Flüchtlingslagern.

Von Samira Sammer

Herr Springer, Sie haben die Hilfsorganisation "Orienthelfer" gegründet und sammeln Spenden, um den syrischen Flüchtlingen im Libanon und in Jordanien zu helfen. Was benötigen die Menschen am meisten?

Christian Springer: Von den Flüchtlingen, die es in den Libanon geschafft haben, haben 7000 Syrer Zuflucht im Wadi Khalid im Nordlibanon gefunden. Die meisten von ihnen stammen aus dem Bezirk Homs. Viele Verletzte können in Syrien nicht versorgt werden und benötigen vor allen Dingen eins: medizinische Nothilfe.

Leider sind Operationen teuer, und die libanesischen Krankenhäuser können nicht alle Flüchtlinge kostenlos behandeln. Viele libanesische Ärzte operieren umsonst oder verbilligt, doch nur bis zu einem gewissen Grad. Dringend benötigte Zweit-OPs und Reha-Maßnahmen finden nicht statt. Den Flüchtlingen fehlt dazu das Geld.

Es ist ein furchtbares Elend, in dem sich die Menschen hier befinden. Mit meiner Organisation versuchen wir, den Verletzten dringende Operationen zu ermöglichen. Wir wollen die Menschen mit humanitärer Hilfe versorgen.

Bei meinem letzten Aufenthalt im Libanon konnten wir einem syrischen Jungen das Leben retten, der durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt worden war und nur noch durch eine Sonde künstlich ernährt wurde. Die Operation kostete 6000 Dollar. Die Ärzte sagen, dass es gut gelaufen ist. Gestern habe ich noch eine Nachricht erhalten, dass der Junge auf dem Weg der Besserung sei und sogar lachen kann. Er kann essen und die Lähmungen sind weg.

Aus diesen Momenten schöpfen ich und mein Team die Kraft für diese Arbeit. Da unser Budget sehr begrenzt ist, können wir leider nicht allen verletzten Flüchtlingen helfen. Ich muss darüber entscheiden, wer welche Operation bekommt - das ist eine sehr schwere Entscheidung und Verantwortung, die ich in solchen Momenten tragen muss. Aber das ist die Pflicht des Helfers. Man fühlt sich elend angesichts dieser Hilflosigkeit.

Noch immer ist es dem Internationalen Roten Kreuz nicht erlaubt, in Syrien die Verletzten zu behandeln. Es fliehen täglich tausende Menschen mit entsetzlichen Verletzungen über die Grenzen, in der Hoffnung auf medizinische Hilfe. Es ist eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in unsere heutigen Zeit - schwerverletzten Menschen die medizinische Versorgung zu versagen – und eine Schande für die westlich-europäischen Länder, die der humanitären Katastrophe zuschauen ohne zu handeln.

In Syrien dürfen die Menschen nicht in staatlichen Krankenhäusern behandelt werden, denn die Verletzten, egal ob Frauen, Kinder oder Männer, gelten nach Ansicht des Staates als Terroristen.

150 Jahre nach der Genfer Konvention, in der es um die medizinische Versorgung von Zivilisten, die nicht kämpfen, ging, schaut die Weltgemeinschaft noch immer zu, wie tausende Menschen einen qualvoll Tod sterben müssen, weil sie keine Hilfe bekommen. Es ist ein Verstoß gegen das tiefste Gefühl der Menschlichkeit - humanitäre Hilfe ist das höchste Gut, welche die Menschen haben sollten.

Ein Mann läuft zwischen Zelten der UNHCR
"150 Jahre nach der Genfer Konvention, in der es um die medizinische Versorgung von Zivilisten, die nicht kämpfen, ging, schaut die Weltgemeinschaft noch immer zu, wie tausende Menschen einen qualvoll Tod sterben müssen, weil sie keine Hilfe bekommen", sagt Christian Springer.

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Welche Hilfsorganisationen sind vor Ort? Was unterscheidet Ihre Hilfsorganisation von den anderen?

Springer: In den Flüchtlingslagern im Libanon und in Jordanien sind unter anderem das UNHCR(United Nations High Commissioner for Refugees), das Internationale Rote Kreuz und einige islamische Hilfsorganisationen wie Islamic Relief vor Ort.

Doch hier ist es leider so, dass diese Hilfe nicht bei allen Flüchtlingen ankommt. Aus Furcht vor dem syrischen Geheimdienst lassen sich viele Menschen nicht bei den Hilfsorganisationen registrieren. Hilfe bekommen sie aber nur, wenn sie registriert sind.

Unsere Hilfsorganisation ist sehr klein, aber wir erreichen mit Hilfe unserer syrischen Freunde gerade die, die von den großen Hilfsorganisationen nicht erfasst werden. Wir sind ein kleiner Verein von nur sieben Mitgliedern, selbstverständlich arbeitet hier jeder ehrenamtlich, somit fallen keine bürokratischen Kosten an und das Geld, das an "Orienthelfer" gespendet wird, erreicht zu 100% die syrischen Flüchtlinge. Alle Reisekosten für mich und mein Team - von Flug, Benzin, Mietwagen und Verpflegung – zahle ich und ein Sponsor aus der eigenen Tasche.

Gibt es im Libanon vergleichbare, staatlich organisierte Flüchtlingslager wie in der Türkei?

Christian Springer: Nein, leider nicht! Mittlerweile sind zwischen 20.000 und 40.000 syrische Flüchtlinge im Libanon. Dennoch will die libanesische Regierung die Syrer nicht als Flüchtlinge anerkennen, sondern sieht sie als Gäste, denen man nur einen kurzen Aufenthalt gewährt. Einige Politiker negieren sogar, dass es im Norden tausende syrische Flüchtlinge gibt und behaupten, es seien nur einige Familien.

Syrien und Libanon verbindet eine belastende Vergangenheit. Der Libanon ist sehr klein und man befürchtet, dass der Bürgerkrieg ins eigene Land überschwappt. Dennoch ist es enorm wichtig, dass die libanesische Regierung die Syrer als Flüchtlinge anerkennt, um ihnen den Zugang zu internationaler Hilfe zu eröffnen.

Im Norden des Landes leiden ja sogar die einheimischen Libanesen darunter, dass die syrische Armee das Wadi Khalid immer wieder mit Raketen beschießt und Scharfschützen willkürlich auf die Leute schießen, besonders nachts. Die syrische Regierung behauptet, dass sich im Wadi Khalid islamistische Terroristen und Salafisten befinden, die für die Region eine Gefahr darstellen.

Wir aber fanden hier traumatisierte Kinder, verletzte Männer und Frauen, die dem Bombenhagel der syrischen Truppen entfliehen konnten, vor. Vom Beschuss sind sowohl die Syrer als auch die Libanesen betroffen.

Das Wadi Khalid ist militärisch abgeriegelt. Die Flüchtlinge dürfen das Tal nicht verlassen und sitzen in ihren Unterkünften fest. Wir dürfen seit ein paar Wochen auch nicht mehr hinein. Wir müssen die Medikamente, Spielsachen, Babykleidung und vieles mehr an unsere Freunde am Checkpoint abgeben.

Viele Libanesen versuchen, den Flüchtlingen zu helfen und werden dabei selbst zur Zielscheibe.
Doch die Helfer sind inzwischen auch an die Grenzen ihrer Kraft gestoßen. Durch die Abriegelung des kleinen Tales sind sie alle eingekesselt und den Scharfschützen und Bomben von den Assads Truppen ausgeliefert.

Schussspuren auf Wagen des Roten Halbmonds, Foto: Orienthelfer e.V.
Assads Truppen schrecken auch vor dem Beschuss von Krankenwagen des Roten Halbmonds nicht zurück. Die Flüchtlinge im Tal "Wadi Khalid" im Norden des Libanon steht auch unter Beschuss; nicht nur die syrischen Flüchtlinge, auch die libanesischen Einheimischen sind davon betroffen. Das Tal ist zudem militärisch abgeriegelt.

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Können Sie auch die Lage der syrischen Flüchtlinge in Jordanien beschreiben?

Springer: Jordanien ist das Land mit der höchsten Flüchtlingsrate weltweit. Mittlerweile leben hier eine Million Flüchtlinge aus dem Irak und ca. 35.000 Verletzte aus dem Bürgerkrieg in Libyen. Jetzt sind noch über 100.000 syrische Flüchtlinge hinzugekommen. Das Land hat eine enorme Belastung zu tragen. Außerdem ist Jordanien ein wasserarmes Land.

Es ist Sommer und die Temperaturen steigen hier bis zu 45 Grad. Hier gibt es internationale Hilfe, doch sie ist auf die Anzahl der Flüchtlinge gerechnet zu gering. Es müssen sofort die Schleusen der Humanität geöffnet werden. Das dreimonatige Warten auf ein Visum ist einem Verletzten aus Homs doch nicht ernsthaft zuzumuten.

Die Flüchtlinge brauchen dringend Hilfe und wir stehen alle in der Verantwortung, etwas zu tun und dürfen die Last nicht allein den Nachbarländern überlassen und dadurch die gesamte Region noch weiter destabilisieren. Unser Leitfaden ist die Genfer Konvention: sofortige Hilfe ohne Ansehen der Herkunft, Religion und Hautfarbe. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit.

Interview: Samira Sammer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de