“Zum Glück sind wir noch am Leben"
Ich muss gestehen, dass mir der Anschlag auf das Cinema Rex nicht bekannt war, obwohl er ein historisch so gut dokumentiertes Ereignis ist und als Auslöser der iranischen Revolution gilt. Glauben Sie, dass solche Tragödien im Nahen Osten nicht so präsent sind wie im Westen?
Shahram Mokri: Mich überrascht nicht, dass ein Verbrechen wie der Überfall auf das Kino Rex aufgrund der Nachrichtenlage im Nahen Osten vergessen wurde. Allein im Iran haben wir in den letzten 40 Jahren die Revolution, die Besetzung der US-Botschaft, politische Attentate, den Krieg mit Irak, den Tod mehrerer Präsidenten und Premierminister und den Sturz mehrerer Regierungen erlebt. Da gibt es wenig Raum für etwas ältere Nachrichten. Aber ich stimme Ihnen zu, dass die Sichtweise auf Geschichte und Ereignisse im Iran und im Westen unterschiedlich ist.
Wollten Sie mit ihrem Film „Careless Crime“ mehr Menschen darauf aufmerksam machen, was Ende der 1970er Jahre im Iran passiert ist?
Shahram Mokri: Das iranische Publikum ist durchaus mit der Geschichte des Cinema Rex vertraut. Selbst die jüngere Generation, die nach 2000 geboren wurde, kennt die Geschichte. Jedes Jahr zum Jahrestag gibt es Debatten darüber, wer für den Brandanschlag auf das Cinema Rex verantwortlich war. Aufgrund der politischen Natur der Geschichte wurde seit Jahren kein Film darüber gedreht. „Careless Crime“ ist der erste Spielfilm über die Ereignisse. Aber mein Ziel ist es nicht, Menschen an die Geschichte zu erinnern. Es gibt bereits genug Analysen über sie.
Im Film heißt es, das Motiv des Verbrechens hätte nicht darin bestanden, Menschen zu töten. Wie sehen Sie das im Nachhinein? Schließlich sind etwa 470 Menschen ums Leben gekommen.
Shahram Mokri: Wir haben ein berühmtes Sprichwort im Iran, wir sagen es zwar als Scherz, aber es ist wirklich wahr: „Zum Glück sind wir noch am Leben.“ Im Nahen Osten zu überleben, hat etwas mit Glück zu tun. Natürlich ist das wahrscheinlich auf der ganzen Welt so, aber im Nahen Osten nimmt dieses Sprichwort eine besondere Bedeutung an. Schauen Sie sich zum Beispiel an, was in Beirut passiert ist. Die Explosion im Hafen von Beirut ähnelt dem Verbrechen des Cinema Rex, denn niemand weiß, wer für die Nachlässigkeit verantwortlich ist. Vielleicht wollte niemand die Hälfte von Beirut zerstören, aber wenn wir den Fall genauer untersuchen, dann sehen wir bestimmt, wer alles in gewissem Maße für verantwortlich war.
Alt gegen Jung
Zeit scheint im Film eine wichtige Rolle zu spielen. Oder das Thema „Alt gegen Jung“, das sich durch den ganzen Film zieht. Warum ist Ihnen beides so wichtig?
Shahram Mokri: Die jüngere Generation spielte in den Jahren der iranischen Revolution eine wichtige Rolle. Diese Menschen sind nun im mittleren Lebensalter. Sie werden wiederum von der heutigen jüngeren Generation ausgefragt. Warum seid ihr damals auf die Straße gegangen? Warum habt ihr die Reformen unter dem Schah nicht akzeptiert? Diese Fragen haben zu einem Generationenkonflikt im Iran geführt. Die jetzige jüngere Generation sagt, dass sie keine Macht hat, die Gesellschaft zu ändern, weil die Revolution für sie alles ruiniert hat. Die ältere Generation sagt wiederum, sie hätte nur das getan, was für sie am besten war. Dieser Konflikt gehört zu den wichtigsten soziologischen Debatten im Iran, und das wollte ich mit meinem Film untersuchen.
Wie sehen Sie das iranische Kino vor der Revolution, vor allem im Hinblick auf das zeitgenössische iranische Kino? Spielen ältere Filme heute noch eine Rolle?
Das interessante ist, dass die iranische Revolution einen klaren Schnitt zwischen den Filmen geschaffen hat, die vorher und nachher gedreht wurden. Die Gesellschaft wurde immer modernen, aber nach der Revolution gab es einen Kurswechsel und man kehrte zu Tradition und Religion zurück. Natürlich hat das alles verändert. Jetzt kann man sich die alten Filme anschauen, die vor der Revolution gedreht wurden, und die junge Generation kann sehen und verstehen, wie die Gesellschaft damals aussah. Diese Filme haben also nicht nur eine filmhistorische, sondern insgesamt eine historische Bedeutung.Niemand weiß genau, was erlaubt ist
Wie ist es heute, im Iran Filme zu drehen, besonders wenn man politische Filme macht? Und wie schwierig ist es, gesellschaftliche Themen zu behandeln, wie in „Careless Crime“?
Shahram Mokri: Das Filmemachen im Iran hat zwei Seiten. Einerseits gibt es einen konkurrenzlosen Markt für iranische Filme, denn es werden nur iranische Filme gezeigt. Daher ist die Produktion von Filmen im Iran nicht so kompliziert wie in Europa. Andererseits beschweren sich iranische Filmemacher über Zensur. Im Iran wird alles politisch interpretiert und das macht das Filmemachen schwierig.
Wenn es in einem Film wirklich um politische Themen geht, dann wird es schwierig. Man muss sowohl vor dem Drehen als auch vor einer Vorführung eine Lizenz vom „Censorship Office“ erhalten. Selbst wenn wir also akzeptieren, dass es eine Zensur gibt, besteht das größere Problem darin, dass niemand genau weiß, was verboten ist und was nicht. Politik ist ein sehr wichtiges Thema und betrifft wirklich jede Familie, jeden individuell und natürlich auch uns als Filmemacher.
In der Presse wurden Sie als Filmemacher bezeichnet, der Genres vermischt. Was halten Sie von dieser Einordnung?
Shahram Mokri: Mein Vater war ein klassischer Kinoliebhaber. Er sammelte Fotos von berühmten Schauspielern. Und ich glaube, dass ich zum ersten Mal verstanden habe, was Kino ist, als ich die ersten Szenen aus John Houstons „Moby Dick“ gesehen habe. Obwohl mein Vater mir heute sagt, dass ich zu jung war, um mich an den Film zu erinnern.
Aber ich habe ich keinen Zweifel daran, dass ich ihn gesehen habe. Ich habe als Junge auch "Star Wars" gesehen und diese Art von Kino hat mich wirklich fasziniert. In einer Umfrage für ein iranisches Filmmagazin habe ich „Star Wars“ als Lieblingsfilm gewählt. Ich kann also sagen, dass mein Interesse am Kino sehr klischeehaft ist. Mit Genrefilmen hat es angefangen. Ich bin eben ein klassischer Filmliebhaber.
Interview: Schayan Riaz
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