"Die Politik braucht eine neue Sprache"
Der Wissenschaftler und Kenner der türkischen Literatur Franz Taeschner stellte einmal die These auf, die türkische Literatur der Neuzeit sei auf Türkisch verfasste europäische Literatur. Sie hingegen sagen, ein Schriftsteller solle mit dem Boden, auf dem er lebt, verbunden bleiben. Wie geht das zusammen?
Murathan Mungan: Zu der These von Taeschner kann ich nichts sagen, da ich nicht weiß, in welchem Zusammenhang er das gesagt hat und was er genau damit meinte. Der Satz, den Sie zitieren, stammt aus meinem Buch "Studioaufnahmen". Es handelt sich dabei um eine Metapher. Was ich damit meinte ist, dass jeder Schriftsteller eine Nachlassenschaft von Geographie, Kultur und Geschichte des Ortes antritt, an dem er lebt. Das soll nicht bedeuten, dass er nur von der Gesellschaft an diesem Ort verstanden wird, sondern vielmehr, dass er von diesem Boden aus sein Wort an die ganze Welt richten sollte. Es bezeichnet auch die Art und Weise, in der wir mit Menschen in anderen Teilen der Welt in Verbindung treten sollen.
In meinem Buch "Der Roman des Dichters" bringe ich noch ein Beispiel über den Boden. Wir alle machen Tongeschirr aus der Erde, aber es muss so sein, dass man es auf der ganzen Welt verwenden kann – in Kanada, Skandinavien, Japan. Mit diesem Beispiel drücke ich gleichzeitig mein Kunstverständnis aus, mein Verständnis von dem Verhältnis, das ein Schriftsteller oder Dichter mit seinen persönlichen und gesellschaftlichen Erinnerungen aufbauen sollte.
Sie sind bekannt dafür, dass sie sehr genau und besonnen mit Sprache umgehen. In Bezug auf die Gezi-Bewegung wurde häufig gesagt, dass die neue Generation in der Türkei in einer Sprache spricht, die die Regierenden nicht verstehen. Welche Kraft hat Sprache bei der Veränderung gesellschaftlicher Zustände?
Mungan: Sprache an sich ist schon ein philosophisches Thema und wenn man über Sprache spricht, dann muss man unterscheiden zwischen Straßensprache, Alltagssprache, Diskurssprache, der eigenen und einer Fremdsprache. Die Sprache, in der ich schreibe, ist die literarische Sprache. Geschriebene Sätze bergen auch viele nicht geschriebene Sätze, d.h. in ihnen findet sich der Widerhall vieler nicht geschriebener Sätze. Ein Schriftsteller sollte die Sprache seines Landes bereichern. Er muss seine eigene Sprache finden, die ihn von allen anderen unterscheidet. Ich möchte die Sprache herausfordern, neue Möglichkeiten und neue Konnotationen finden und in einer Sprache schreiben, die die Leser an das Buch fesselt. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung, aus der Alltagssprache eine Literatursprache zu machen.
Einen Unterschied zwischen der Sprache der Jugend und der Regierung gibt es schon lange. Wir sehen, dass sämtliche verbale Argumente in Sackgassen verlaufen und dass die Politik eine neue Sprache braucht. In diesem Zusammenhang muss man auch über die Beziehung von Sprache zu Ideologie nachdenken und gleichzeitig muss die junge Generation ihr Wissen über Sprache hinterfragen. Wichtig ist auch die Beziehung zwischen Sprache und Gedanken. Das ist ein dialektischer Prozess, denn eine neue Sprache bringt auch neue Gedanken mit sich. Das Problem ist, dass wir im Moment voneinander abgetrennte Sprachen haben, die einander nicht versehen.
Bei den Bewertungen der vergangenen Kommunalwahlen in der Türkei liegt der Fokus meist auf dem Streit zwischen der AKP und der Oppositionspartei CHP, doch daneben gibt es andere Entwicklungen: In vielen Provinzen gibt es nun Bürgermeisterinnen, die BDP/HDP stellt viele Bürgermeister, LGBT-Aktivisten wurden in Stadträte gewählt. Sie haben sich immer für die kurdische Bewegung und für die Homosexuellenbewegung stark gemacht. Wie bewerten sie die Entwicklungen?
Mungan: Das Bild spricht eigentlich schon für sich. Wir erleben gerade in der Türkei, dass sich die Sprache und die Wege der Politik verändern. Es ist interessant, in wie vielen Provinzen die BDP bzw. die HDP die Kommunalwahlen gewonnen hat. Auf der anderen Seite habe ich kürzlich eine Nachricht gelesen, dass jemand in Bingöl erklärte, eine Bürgermeisterin sei gegen unsere Sitten. Das sind alles verschiedene Aspekte desselben Bildes. Es ist wichtig, dass man jetzt wieder über Demokratie spricht, über neue Wege, seine Identität zu finden und sein Recht zu bekommen. Wir befinden uns in einem Prozess.
Sie sagen, dass Sie das Wort optimistisch nicht mögen, doch zeigen Sie sich generell immer optimistisch, was die Entwicklung in der Türkei angeht. Gleichzeitig haben Sie einmal gesagt, dass man in der Türkei alles machen könne, nur blamieren dürfe man sich nicht. Sind Sie nach den Korruptionsvorwürfen gegen Abgeordnete der AKP, die bislang folgenlos blieben, noch immer so positiv gestimmt?
Mungan: Ich muss erst einmal voranstellen, dass ich, was mein eigenes Leben betrifft, kein glücklich umherflatternder Schmetterling bin. Aber ich versuche, nicht in Kategorien wie optimistisch, pessimistisch oder glücklich, unglücklich, hoffnungsvoll, hoffnungslos zu denken, sondern einen objektiven Maßstab zu finden, das ganze Bild, den gesamten Prozess zu sehen. Es gibt einen Satz von einem französischen Denker, dessen Namen ich jetzt nicht erinnere, der lautet: Mit meinen Erfahrungen bin ich pessimistisch, mit meinem Willen optimistisch. Das beschreibt am besten meine Einstellung. Wir müssen neue Wege des Widerstands finden. Und ich denke, der größte Widerstand ist, das zu machen, was man am besten kann. Das System kann alles von mir nehmen, aber meine Fähigkeit und meinen Glauben an das, was ich am besten kann, bleibt immer bestehen.
In Ihrem Buch "Tschador" zeichnen sie ein Horrorszenarium eines Landes, das von Islamisten beherrscht wird. Viele dachten, die AKP würde die Türkei allmählich zu einem islamistischen Staat machen. Ist nach so vielen Jahren AKP-Regierung diese Angst überhaupt noch berechtigt?
Mungan: Es wäre nicht richtig, "Tschador" auf eine bestimmte Partei oder ein Land zu reduzieren. Was ich zeigen wollte, ist, was geschehen kann, wenn der Islam politisiert wird, das säkulare Denken ausgelöscht und der Laizismus aufgehoben wird. Ich habe das Buch zwischen 2001 und 2003 geschrieben und es trägt Spuren von dem, was ich zu der Zeit über dieses Thema gelesen habe sowie vom täglichen Leben im Iran, in Afghanistan oder in Saudi-Arabien. Es ist eine Fiktion, die ich entworfen habe, um dieser Frage nachzugehen. Doch wenn man sich überlegt, was in Syrien derzeit auch nur potentiell geschehen könnte, ist das sehr erschreckend.
In meinem Buch geht es auch um das Gesehen- und Nichtgesehen-werden. Wenn man in einer Gesellschaft beginnt, die Frauen zu verschleiern, beschränkt sich das nicht auf eine solche Verschleierung. Man verschleiert damit auch gleichzeitig die Wirklichkeit und das bringt wiederum einen Wirklichkeitsverlust auf der Wahrnehmungsebene mit sich.
Das Interview führte Ceyda Nurtsch.
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de