Unsere zerbrochenen Sprachen
Sie widmen Ihr Werk Louder than Hearts "unseren zerbrochenen Sprachen und unseren zerbrochenen Städten". Warum sprechen Sie von zerbrochenen Sprachen?
Zeina Hashem Beck: Ich fühle mich so, als seien alle meine Sprachen zerbrochen, da ich in drei Sprachen spreche und denke: Französisch, Englisch und Arabisch. Warum sprechen wir Französisch und Englisch? Wegen des Kolonialismus, des Imperialismus.
Vorher empfand ich eine gewisse Schuld gegenüber dem Arabischen. Ich musste erst lernen, dass ich diese Schwelle überbrücken kann und dass ich die Kraft dazu finden muss. Jetzt akzeptiere ich das Wort "zerbrochen" – ein Wort, das aus einem anderen Mund so negativ klingen könnte. Mein Arabisch ist nicht perfekt und auch bei englischer Lektüre muss ich noch immer nach Definitionen suchen. Jeden Tag lerne ich neue Wörter hinzu.
Warum schreiben Sie so viele Gedichte über die Nachrichten? Ich denke hier insbesondere an den zweiten Abschnitt von "Louder than Hearts". Beispielsweise an "Terror/Mathematics", worin Sie über die Enthauptung von 21 ägyptischen Christen in Libyen schreiben, gefolgt von "Inside Out" über die Konflikte im Gazastreifen im Juli 2014. Und danach "Ghazal: This Hijra", das Mossul und Sindschar gewidmet ist.
Hashem Beck: Dies ist die Welt, in der wir leben, und die Nachrichten gehören dazu. Ich höre nicht jeden Tag Nachrichten. Sie ziehen mich herunter. Aber ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen zusammen mit meinem Vater im Auto immer Nachrichten hörte. Ich hasste damals die Sprache der Nachrichten. Sie war so platt, so unpoetisch. Mein Vater las auch Zeitung. In meiner Erinnerung an meine Kindheit nehmen Fernsehnachrichten einen großen Raum ein.
Bestimmten damals die Nachrichten den Alltag aufgrund des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990?
Hashem Beck: In den arabischen Ländern laufen ständig Nachrichten im Radio oder Fernsehen. Als Dichterin fühle ich mich zudem verpflichtet, Zeugnis abzulegen. Ich fühle mich dafür verantwortlich, was die Nachrichten berichten. Also nehme ich die Sprache der Nachrichten und verändere sie. Doch dabei muss ich vorsichtig sein.
Warum vorsichtig...?
Hashem Beck: Weil ich nicht das Leid anderer Menschen für meine Gedichte nutzen will. Ich identifiziere mich mit dem Leiden. Schließlich habe ich den Krieg erlebt. Dennoch muss ich vorsichtig sein. Ich schreibe nur dann ein Gedicht, wenn ich wirklich erschüttert bin. Niemals würde ich denken: "Ich muss jetzt ein Gedicht über Palästina schreiben." Nur wenn ich im Innersten erschüttert bin, schreibe ich darüber. Ich schreibe auch nicht einfach über Syrien um des Schreibens willen.
Welche Lektüre hat Sie als Kind geprägt? Haben Sie Gedichte gelesen?
Hashem Beck: Als Kind habe ich gar nicht viel gelesen. Bei uns gab es kaum Bücher. Es herrschte Bürgerkrieg. Und die Bücher, die es gab, waren nicht für mein Alter bestimmt. Meine erste Lektüre waren somit die Geschichten, die meine Mutter und meine Tanten erzählten. Und natürlich auch die Lieder. Meine Eltern haben stets irgendetwas gesungen. Und auch der Klang der Straße vor unserem Haus war Teil meiner ersten Lektüre.
Die Sprache der Poesie hat mir immer besonders gefallen. Doch als kleines Kind las ich lediglich das, was die Schule verlangte. Mit neun oder zehn Jahren forderte mich die Literaturlehrerin auf: "Suche dir ein Gedicht aus und lerne es auswendig." So wie es wohl alle Kinder machen würden, suchte ich daraufhin nach kurzen Gedichten. Und ich fand "Demain, dès l'aube" von Victor Hugo, das Gedicht, worin der Autor den Tod seiner 19-jährigen Tochter verarbeitet. Ich erinnere mich, wie ich mich fragte: Was fühle ich dabei? Ich erinnere mich, wie ich es in der Klasse vortrug. Es war ein Schlüsselerlebnis.
Es nicht nur zu lesen, sondern vorzutragen?
Hashem Beck: Ja, genau. Meine Mutter ist Künstlerin und spricht viel in ihren Geschichten. Sie sagte mir ständig: "Du bist eine Schriftstellerin." Sogar Werbung im Fernsehen lernte ich auswendig und trug sie dann vor. Ich erfand Geschichten. Ich schrieb Definitionen für Wörter, die so nicht in den Wörterbüchern zu finden waren, denn es waren meine Definitionen. Ich glaube, sie sah das alles.
Hat der Umzug nach Dubai etwas mit Ihnen als Dichterin gemacht?
Hashem Beck: Dubai hat mir Raum und Frieden gegeben. Etwas, was ich in Beirut nicht hatte. Mein gesamtes erstes Buch handelt von Beirut. Ich liebe diese Stadt. Aber wenn ich mir vorstelle, in Beirut zu leben, mit zwei Kleinkindern, dem ganzen Chaos und meiner Familie in der Nähe ....
Dubai hat mir die Chance gegeben, selbstbestimmt zu leben. Wenn die Kinder in der Schule sind, setze ich mich hin. Ich muss nicht mit meiner Mutter oder Schwiegermutter sprechen. Ich muss niemanden besuchen. Ich darf ganz einfach schreiben. So gewann ich die Einsamkeit, die ich brauchte. Ich glaube nicht, dass ich mein erstes Buch über Beirut geschrieben hätte, wenn ich nicht fern von Beirut gewesen wäre.
Glauben Sie, Ihre Poesie wäre heute eine andere, wenn Sie nicht nach Dubai, sondern nach Kanada gezogen wären?
Hashem Beck: Wenn ich nicht in der arabischen Welt bin, wenn ich keine arabischen Klänge höre, fühle ich mich wie in der Verbannung. Dennoch könnte ein Umzug gut für mich sein. Was wäre, wenn ich in die USA gezogen wäre? Ich wäre mit den vielen Schriftstellern verbunden, die ich so bewundere. Ich hätte mehr Kontakte. Und dennoch fühle ich mich in Dubai niemals marginalisiert. Ich fühlte mich hier nie wie eine muslimische Autorin. Ich bin einfach ich selbst. Religion ist ein bedeutender Teil meines Lebens und ich schreibe darüber. Aber ich muss mich hier nicht beweisen, denn ich bin die Norm. In den USA hingegen müssen sich muslimische Schriftsteller jeden Tag damit auseinandersetzen.
Das Interview führte Marcia Lynx Qualey.
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Peter Lammers