Gedenken ist Familiensache

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Ein Bild des ägyptischen Poeten Ibrahim Nagui ist hinter Mehrez' Eltern zu sehen. (Foto: privat/Samia Mehrez)

Ibrahim Nagui war ein Pionier der ägyptischen romantischen Poesie. Seine Enkelin Samia Mehrez gibt in einem teils biografischen, teils als Memoiren angelegten Buch einen intimen Einblick in sein Werk und sein Vermächtnis.

Von Marcia Lynx Qualey

Samia Mehrez' Buch „Die vielen Leben des Ibrahim Nagui: Eine Reise mit meinem Großvater“ (Januar 2025) ist ebenso sehr die Erzählung einer Heimsuchung wie eine historische Darstellung. 

Der Ende des 19. Jahrhunderts in Kairo geborene Nagui war Dichter, Übersetzer und Arzt für Bedürftige. Zudem war er Mitbegründer der einflussreichen ägyptischen Apollo-Gesellschaft für romantische Poesie. 

Zu Lebzeiten von Kritikern vernachlässigt, erlangte Nagui posthum Ruhm, als eine Adaption seines Gedichts „al-Atlal“ („Die Ruinen“) vertont und von Umm Kulthum gesungen wurde.

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Anstatt die Leser:innen zu Beginn ihres Buches in die Zeit zurückzuversetzen, in der ihr Großvater noch lebte (1898-1953), beginnt Mehrez, die heute Literaturprofessorin an der American University in Kairo ist, ihren Bericht im Jahr 1981. 

In der Eröffnungsszene wird sie vom ägyptischen Romancier Gamal al-Ghitani in ihrem Elternhaus besucht. Dieser stellt mit Erstaunen fest, dass im Salon ein großes Porträt von Nagui hängt. Die Fotografie, von ihrer Mutter „über jedes vernünftige Maß hinaus vergrößert“, war für Mehrez so allgegenwärtig geworden, dass sie „gleichzeitig präsent und abwesend“ war. 

Als Ghitani erfährt, dass Nagui ihr Großvater gewesen war, verfällt er aufgeregt in die Lobeshymnen, die Mehrez „schon tausendmal gehört hat“. 

Dies ist die erste Begegnung mit Naguis Geist: ein überlebensgroßes Genie, ein Mann mit poetischen Fähigkeiten, einem sanften Herzen und einem schrägen Sinn für Humor. Doch selbst in diesem Moment beunruhigt Naguis Geist die Erzählerin Mehrez. 

Als al-Ghitani sagt: „Weißt du, du siehst genauso aus wie er“, empfindet Mehrez dies als Affront: „Es gab keine Ähnlichkeit, sagte ich mir entrüstet. Ich war zwar auch relativ klein, aber hatte ich auch diesen kahlen Kopf, den steinernen Blick, die riesige Nase, die seltsamen dicken Lippen?“ 

Das gesamte Buch hindurch verfolgt Samia Mehrez der Geist von Nagui. Sie erinnert sich an Séancen, die im Salon der Familie abgehalten wurden, als sie ein Mädchen war, etwas, das „damals in vielen Familien zur Unterhaltung am Abend stattfand“. 

Nach dem Tod ihres Großvaters, so schreibt sie, riefen sie auch dessen Geist herbei und stellten ihm banale Fragen wie: „'Was gibt es heute zu Mittag?' Der Stift gab immer die richtige Antwort: 'Molochheya' [ein klassisches ägyptisches Gericht aus Juteblättern].“ Als Mehrez erwachsen war, merkte sie, dass es so viel mehr gab, was sie ihn gern gefragt hätte.  

Zwei widersprüchliche Porträts

Naguis Geist taucht in der Schule wieder auf, und zwar in einem Schulbuch, in dem sein vielleicht zweitberühmtestes Gedicht „al-'Awda“ („Die Rückkehr“) abgedruckt war. Dabei handelt es sich um ein klassisches romantisches Gedicht im vornehmen Stil der damaligen Zeit. 

Mehrez beschreibt das Gedicht als „spießig“ und erinnert sich, dass es sie „zur Zielscheibe der Witze der anderen Kinder“ machte. Die abstrakte Sprache und das archaische Vokabular machten es jungen Leser:innen schwer, etwas damit anzufangen. Die Erläuterungen im Lehrbuch – die Mehrez wiedergibt – trugen nur dazu bei, dass das Gedicht eher an eine Matheaufgabe erinnerte als an ein künstlerisches Werk.   

Während das Gespenst ihres Großvaters sie hätte abschrecken können, entschied sich Mehrez für ein Literaturstudium, wodurch er sie weiter verfolgte, bis sie sich umdrehte und ihm ins Gesicht sah. Zu diesem Zeitpunkt schwebten bereits mehrere Phantome des Großvaters um sie herum, die durch das Echo der gesellschaftlichen Anerkennung, die Erinnerung der Familie und die Biographien seiner Freunde und Kollegen entstanden.

Book cover featuring a picture of a man.
Buchcover: American University in Cairo Press 2024

Besonders zwei dieser Geister schienen sich zu widersprechen. Vielen Darstellungen zufolge war Nagui ein Wüstling von einem Dichter, der sich von einer geheimnisvollen Muse inspirieren ließ, ebenso wie von seinen zahlreichen Tändeleien mit Frauen. Für andere war er ein hingebungsvoller Familienmensch.   

Die letztere Version wurde von Mehrez' Mutter unterstützt. Sie gab regelmäßig Auszüge aus der Korrespondenz ihrer Eltern an die Presse weiter, zum Beispiel wenn eine Frau behauptete, Naguis poetische Muse gewesen zu sein. Sie wollte die Vorstellung widerlegen, dass die Ehe unglücklich gewesen war. 

Im Jahr 2003 sagte Mehrez' Mutter der Zeitschrift al-Shabab: „Meine Mutter und mein Vater lebten 25 Jahre lang die romantischste aller Liebesgeschichten.“  

Als Mehrez diese widersprüchlichen Bilder ihres Großvaters anhand seiner Korrespondenz, der Schriften seiner Freunde und der Unterlagen, die ihre Tante Dawheya gesammelt hatte, untersucht, findet sie einen Mann, der weder das eine noch das andere ist.   

Naguis Briefe an seine Frau zeigen, wie verzweifelt er sich eine Liebesgeschichte wünschte. Zu Beginn ihrer Ehe schrieb er ihr leidenschaftliche Briefe auf Französisch, auf die sie nur selten antwortete, vielleicht weil sie Französisch als anstrengend empfand oder nicht wusste, wie sie auf seine blumigen Worte reagieren sollte. Ihre Beziehung wurde dadurch belastet, dass sie es vorzog, in Kairo zu bleiben, anstatt ganzjährig in Mansoura zu leben, wo er arbeitete.  

Später bringt Mehrez einige der anderen Frauen ihres Großvaters in die Geschichte ein. Dabei bezieht sie weiterhin ihre Mutter mit ein, die sie als „Verwalterin dieses sorgfältig kuratierten Vermächtnisses“ bezeichnet. 

Die Gespräche mit dem Geist ihres Großvaters führen unweigerlich dazu, dass das von ihrer Mutter gepflegte Erbe aus den Fugen gerät. Mehrez muss ihren eigenen Wunsch, die Vergangenheit zu erfahren, mit dem Bedürfnis des Geistes nach Privatsphäre in Einklang bringen.  

Er wollte Wissenschaft und Literatur verbinden

Während seine Leser:innen und Biographen seiner letztlich wenig spannenden Dichtung weitaus mehr Interesse entgegengebracht haben als seinen wissenschaftlichen Schriften, offenbart ein genauerer Blick auf Naguis Werk einen Mann, der sich der Medizin verschrieben hatte. Besonders interessierte er sich für die Beziehung zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit.   

Mehrez spricht darüber als die „getrennten Hälften von Naguis Vermächtnis“. Als Arzt behandelte Nagui die Armen und versuchte durch seine leicht zugänglichen Bücher, medizinisches Fachwissen für die breite Bevölkerung zugänglich zu machen.   

Seine lebenslangen Versuche, Wissenschaft und Literatur zu verbinden, wurden von seinen Vorgesetzten nicht gewürdigt. Er wurde zunächst zurückgestuft und dann, ein Jahr vor seinem Tod, aus dem Staatsdienst entlassen.   

Am Ende des Buches hält Mehrez eine neuerliche Beerdigung für ihren Großvater ab. Sie beschreibt den Prozess des Schreibens der letzten Absätze als einen schwierigen Abschied, bei dem sie immer wieder „anfing zu schreiben und dann aufhörte, weil ich genau wusste, was ich sagen wollte, es aber noch nicht sagte... wie ein Gast, der zu lange verweilt und nicht nach Hause gehen will“. 

Mehrez vermittelt dem Lesenden ein lebendiges und authentisches Porträt von Nagui, seiner Familie und seinem Umfeld. Aber ihr Buch wirft auch Fragen auf, wie wir uns an unsere Vergangenheit erinnern. Es gibt Nachfahren von Nagui, die sein Bild so bewahren wollen, wie es ist, während andere es peinlich oder „spießig“ finden. Mehrez macht sich immer wieder Gedanken darüber, wie tief die Geschichte in den Familien und Gemeinschaften verankert ist und wie diese Gemeinschaften in jede Neuerzählung einbezogen werden müssen.  

 

The Many Lives of Ibrahim Nagui
Samia Mehrez 
Ins Englische übersetzt von Eleanor Ellis, ursprünglich auf Arabisch von Dar El Shorouk 2021 veröffentlicht
AUC Press 2025

 

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