Der Gesellschaft den Spiegel vorhalten
In Ihrem jüngst erschienenen Buch "Eine Epoche – zwei Frauen" halten Sie der türkischen Öffentlichkeit einen Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes seit den 1940er Jahren vor. Auch in einem Ihrer frühen Bücher, den "Katzenbriefen" (Kedi Mektupları) sind es die Katzen, die für eine Reflektion der gesellschaftlichen Zustände in der Türkei stehen. Weshalb greifen Sie immer wieder auf diesen Spiegel als literarisches Element und Metapher zurück?
Oya Baydar: In meinem letzten Buch war das keine bewusste Entscheidung. Vielmehr entwickelte sich das durch den Dialog zwischen mir und meiner Co-Autorin und Freundin Melek Ulugay. Wir halten uns eigentlich gegenseitig einen Spiegel vor, als zwei Frauen, die eine Epoche auf unterschiedliche Art und Weise erlebt haben. Gleichzeitig halten wir aber dadurch auch der Zeit, die wir beleuchten, einen Spiegel vor. Wir wollten diese Epoche noch einmal erleben und damit auch für andere erlebbar machen. Melek Ulugay und ich kommen aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern, die sogar miteinander im Clinch gelegen haben. Ich hing damals dem pro-sowjetischen Flügel an, meine Freundin, die jünger ist als ich, dem maoistischen. Zwischen den beiden linken Fraktionen kam es sogar fast schon zu erbitterten Fehden!
Aber auch unsere familiäre Herkunft unterscheidet sich stark voneinander. Melek entstammt einer bürgerlichen Familie, meine Familie dagegen zählte zur Mittelschicht. Auch waren unsere Ausbildungswege grundverschieden: Melek genoss eine angelsächsische Ausbildung, während ich durch die katholische Erziehung der französischen Schule geprägt wurde.
Vor dem Hintergrund dieser Unterschiede wollten wir zeigen, wie eine bestimmte gesellschaftliche Schicht diese Epoche erlebt hat. Vor allem aber war es uns wichtig zu zeigen, wie all diese Unterschiede mit den Jahren zur Nebensache werden und wir uns letztendlich an einem bestimmten Punkt treffen können. Dieses Sich-Treffen-Können ist in der Türkei besonders wichtig, wo die Fronten zwischen den verschiedenen Lagern noch immer sehr verhärtet sind. Was uns betrifft, so war die Friedensbewegung wohl unser gemeinsamer politischer Nenner.
Dass sie beide diese Epoche aus ihrer Perspektive als Frauen beleuchten, spielt dabei auch eine wichtige Rolle …
Baydar: Es ist sehr wichtig, dass wir als Frauen diese Geschichte erzählen. Besonders wenn es um politische Themen geht, schildern Männer die Geschichte immer gerne aus einer gewissen Machtposition heraus. Aus diesem Grund können sie nicht immer bei der Wahrheit bleiben. Ständig versuchen sie alles so darzustellen, als hätten sie immer alles richtig gemacht. Das gilt besonders für Männer in Führungspositionen.
Dieses Problem hatten wir beide nicht. Wir haben über alles in einer sehr selbstkritischen, intimen Art gesprochen, in der wir unsere eigenen Bewegungen und uns selbst kritisch reflektierten. Wir denken, dass das besonders wichtig ist, denn nur so kann die Geschichte ungeschminkt zum Vorschein kommen – jenseits der schriftlich festgehaltenen offiziellen Geschichtsschreibung. Denn auch die linke Bewegung kennt eine bestimmte offizielle Lesart der Geschichte. Wir wollten wissen, wie zwei Frauen jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung diese Zeit erlebt haben. Deshalb erzählen wir auch von unseren Liebesabenteuern und anderen privaten Geschichten, denn das Leben war ja nicht eindimensional und bestand nicht nur ausschließlich aus Politik.
Mit Ausnahme Ihres letzten Buches haben Sie immer Romane geschrieben. Welche Rolle spielt der Roman bei der Auseinandersetzung der Türkei mit ihrer Geschichte?
Baydar: Der Roman spielt hierbei eine sehr wichtige Rolle. Eigentlich ist der Roman auf der ganzen Welt die Literaturgattung, die gerade ihren Aufschwung erlebt. Das heißt, dass der Roman derzeit am meisten gelesen wird. Vermutlich wird das irgendwann auch wieder abnehmen, aber gegenwärtig ist das der Fall. Jeder Roman, der etwas im politischen oder gesellschaftlichen Bereich zu sagen hat, ist ein Dokument. So lesen zum Beispiel besonders junge, interessierte Menschen meine Romane, weil sie mehr über die damalige Zeit erfahren möchten, über die ich schreibe.
Dieses Interesse wird auch zweifelsohne weiterbestehen. Durch den Roman kann man eine Geschichte ans Tageslicht bringen, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeblendet wird. Auf diesem Gebiet bin ich in der Türkei nicht alleine. In den letzten Jahren sind vermehrt Romane erschienen, die sich mit der heutigen Realität in der Türkei als auch mit ihrer Geschichte auseinandersetzen.
In Ihren Romanen geht es um die Identitätssuche der Charaktere…
Baydar: Grundsätzlich geht es in meinen Romanen um die Suche nach Identität, nach der kritischen Reflexion von Macht und – das ist das Wichtigste – um die Barbarei, die diese Welt beherrscht. Dabei sticht bei jedem Roman einer dieser Aspekte hervor. In meinem Roman "Es blieb seine heiße Asche" (Sıcak Külleri Kaldı) geht es zum Beispiel um die Macht, die alles zerstört. In "Judasbaumtor" geht es um die Identität, die die Menschen selbst auf der Grundlage ihrer Überzeugungen kreieren. Um ihre Identität zu bewahren opfern sie selbst ihr Leben.
Ein anderer Roman von mir ("Verlorene Worte") spielt während des Irak- und Kurdenkrieges, zu einer Zeit, in der, so wie heute, viel Leid geschah. Hier ist das Hauptthema die Gewalt. Diese reicht von "sanfter Gewalt" bei der Erziehung der Kinder, wenn man beispielsweise möchte, dass sie einmal so werden wie man selber, bis hin zur Gewalt im Krieg. "Der General des Müllplatzes" (Çöplüğün Generali) ist dagegen ein fiktiver Roman, der vom Stil her eigentlich aus der Reihe tanzt, geht es doch um die Amnesie einer ganzen Gesellschaft.
Inwiefern lässt sich die Spiegelmetapher auf die gesellschaftliche Realität der heutigen Türkei anwenden?
Baydar: Vor ein paar Jahren war ich noch optimistischer was die Zukunft der Türkei angeht. Meine Generation hat sich dafür eingesetzt, dass es in der Türkei mehr Freiheit und Demokratie gibt, dass der Krieg gegen die Kurden aufhört und dass allgemein eine friedlichere Atmosphäre herrscht. Wir alle sind inzwischen sehr enttäuscht und pessimistisch. Noch vor drei bis fünf Jahren hatten wir die Hoffnung, dass sich die politische Situation bessern würde. Wir dachten, dass sich etwas bewegt, wenn auch nur langsam.
Natürlich wussten wir, dass die gegenwärtige Regierung eine Politik in Grenzen verfolgt, ist sie doch konservativ, religiös und neoliberal ausgerichtet – also weit entfernt von den Programmen, die ich und viele andere uns wünschen. Dennoch hat die Regierung zumindest dafür gesorgt, dass sich in der Türkei immerhin etwas bewegt. Wir dachten, dass dies weitergeht. Aber die AKP ist vermutlich an ihre eigenen Grenzen gestoßen, aus diesem Grund vermissen wir heute noch immer die Demokratie.
Viele unserer Freunde sitzen derzeit in Haft – darunter auch Menschen, von denen wir mit hundertprozentiger Sicherheit wissen, dass sie keiner politischen Organisation angehören. Auch hatten wir große Hoffnungen in die Verfassung gesetzt. Zwar haben wir bei den Wahlen der Regierung nicht unsere Stimme gegeben, aber bei dem Referendum zur Änderung der Verfassung haben einige von uns Linken dafür gestimmt. Wir haben diesen ersten Schritt unterstützt, auch wenn wir immer wieder betont haben, dass das noch längst nicht genug ist. Für diese Haltung wurden wir auch häufig kritisiert. Und tatsächlich zeigt die Regierung nun ihr wahres Gesicht und die Entwicklung des Landes ist zum Stillstand gekommen.
Sie waren Mitglied der Türkischen Arbeiterpartei und einer der bekannten Namen in der linken Bewegung. Dennoch sind Sie zu einer großen Kritikerin der linken Bewegung geworden. Warum?
Baydar: Ich war Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei, doch ich habe erkannt, dass es dort solche Strukturen vorherrschen, in denen das Individuum nicht zählt. Das widerspricht dem Prinzip des Marxismus. Es ist falsch, zur Rettung der Gesellschaft das Individuum zu opfern. Das ist bestimmt nicht das, wofür unsere Generation auf die Straße gegangen ist.
Unsere Vision war eine ganz andere. Wir wollten einfach nur eine Welt, in der Menschen in Gerechtigkeit miteinander leben. In der Türkei, wie auf der ganzen Welt, ist die politische Linke derzeit marginalisiert und befindet sich in einem Prozess der Selbstsuche. Was die heutige Opposition angeht, so trägt sie genauso die Schuld an der Entwicklung des Landes wie die Regierung. Sie verhält sich beispielweise in der Lösung der Kurdenfrage nicht konstruktiv. Aber ich pflege immer zu sagen: Die Türkei ist das Land der Wunder. Es geschieht etwas und plötzlich ändert sich die ganze Atmosphäre.
Interview: Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de