''Wem sollte die Türkei als Vorbild dienen?''
Seit 14 Jahren wird nun ein Prozess gegen Sie geführt, der von vielen Menschen in der Türkei als absurd empfunden wird. Sie sollen 1998 an einem Bombenattentat im Ägyptischen Basar in Istanbul beteiligt gewesen sein. Mittlerweile sind sich viele Menschen in der Türkei einig, dass das Verfahren gegen Sie politisch motiviert ist und stellvertretend für den Kampf gegen alle türkischen Oppositionellen steht. Gleichzeitig avancierten Sie zu einer Symbolfigur der türkischen Demokratiebewegung. Wie kommen Sie mit dieser Rolle zurecht?
Pınar Selek: Dieser symbolische Kampf, der auf meinem Rücken ausgetragen wird, dieser kafkaeske Prozess, war nicht etwas, worauf ich vorbereitet war. Dennoch traf es mich nicht völlig überraschend, denn ich kannte das politische System der Türkei sehr gut. Schon in meiner Kindheit war mein Vater im Gefängnis gewesen. Ich hatte den Militärputsch vom 12. September 1980 und die Zeit danach miterlebt. Am Beispiel der Soziologin und letzten Vorsitzenden der Türkischen Arbeiterpartei, Behice Boran, die 15 Jahre im Gefängnis gesessen hat, hatte ich gesehen, dass Menschen wegen ihrer wissenschaftlichen Recherchen hinter Gitter landen können.
Alle Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle, die ich mochte, hatten ihre Erfahrungen im Gefängnis oder im Exil gemacht. In gewisser Weise war ich also vorbereitet. Was mich jedoch in meinem Fall besonders hart getroffen hat, war die Anschuldigung an sich. Es wäre erheblich leichter für mich gewesen, hätte man mich aufgrund meiner wissenschaftlichen Untersuchung oder wegen meines Buchs angeklagt. Aber für den Tod von Menschen mitverantwortlich gemacht zu werden, beschuldigt zu werden, eine Bombe gezündet und gewalttätig gewesen zu sein – das hat mich doch sehr hart getroffen. Aber nichtsdestotrotz bin ich ein politischer Mensch geblieben. Ich habe akzeptiert, dass ich mich diesem Kampf bis heute stellen muss. Gleichzeitig habe ich Glück, ein großes Netzwerk von Menschen zu haben, die mir beistehen – an erster Stelle meine Familie und meine nahen Bekannten.
Mit der Zeit hat sich die Solidarität dann wellenartig auf alle Menschen übertragen, mit denen ich zu tun hatte. Ich habe mich also von Anfang an nie alleine gefühlt. Aber dennoch muss ich sagen, dass es schwer war, mit dieser Rolle zu leben. Wir kommen nur einmal auf die Welt, da wäre es besser, wir wären nicht gezwungen, diesen Kampf auf diesem primitiven Niveau führen zu müssen, sondern auf einem, der uns im Leben auch weiterbringt. Leider ist das aber nicht der Fall.
Seit Jahren hat sich an ihrem Prozessverlauf nichts verändert: Sie werden freigesprochen, die Staatsanwaltschaft legt Widerspruch ein. Dann finden weitere Anhörungen statt. Doch inzwischen hat sich in der Türkei viel verändert, die AKP ist mit einem Demokratisierungsversprechen angetreten. Bedeutet dies nicht auch Reformen zur Verbesserung der Menschenrechte im Land?
Selek: Mein Prozess wirft – genauso wie das Verfahren gegen Hrant Dink – ein Schlaglicht auf politische Prozesse gegen Dissidenten. Dass der Prozess nun seit 14 Jahren weitergeführt wird, zeigt, dass das Denken noch immer das alte ist. Nach wie vor ist es ein großes Vergehen, bestimmte Themen in der türkischen Öffentlichkeit zu diskutieren.
Zwar wurde die Folter offiziell verboten, aber mein Prozess wird noch immer weitergeführt, weil damals ein junger Mann unter Folter gegen mich ausgesagt und anschließend seine Aussage zurückgenommen hat. Dass ich als Wissenschaftlerin festgenommen wurde und dass man noch immer versucht, mir einen Strick zu drehen, zeigt, dass sich das politische System nicht verändert hat. Tagtäglich werden in der Türkei Dutzende von Menschen festgenommen. Ist erst einmal das Rechtssystem beschmutzt, kann leider gar nichts verbessert werden.
Aber es scheint, dass sich die AKP bemüht, den Frauen mehr Rechte einzuräumen…
Selek: Die Familienministerin Fatma Şahin gehörte zwar schon immer zur Frauenbewegung in der Türkei. Aber wenn sich das Verständnis nicht grundlegend ändert, können auch keine Veränderungen herbeigeführt werden. Man muss sich nur einmal die jüngsten Veränderungen vor Augen halten, dann sieht man rasch, dass diese längst nicht ausreichend sind.
Zwar gibt es ein paar neue Ansätze, aber die sogenannten Reformen beziehen sich immer auf die Familienpolitik, die im Grunde Hand in Hand gehen mit der Familienpolitik der konservativen Parteien in Europa. In der Türkei existiert ein neokonservatives und neoliberales System. Das Ziel ist nicht etwa die Befreiung der Frau. Zwar hat man einige Punkte bezüglich der Gewalt gegen Frauen verbessert, aber letztendlich will man die neokonservativen Strukturen beibehalten.
Sie haben immer betont, dass es in der Türkei trotz allem eine demokratische Bewegung gibt. Die Türkei wird häufig als Vorbild für die arabischen Staaten genannt. Kann die Türkei diese Vorbildrolle erfüllen?
Selek: Die Struktur des Staates oder seine Politik als Vorbild heranzuziehen, wäre absurd. Vorbildlich sind eher die Menschen, die dagegen opponieren. Sie können ihre Gedanken und Ideen austauschen. Wir Oppositionelle in der Türkei müssen uns mit Dissidenten unserer Nachbarländer genauso zusammenschließen, wie wir es mit der Opposition in den westlichen Ländern tun. Wir sollten beispielsweise noch enger mit der feministischen Bewegung in Syrien, im Iran und in Ägypten kooperieren.
Seit 2009 leben Sie nun im Exil, erst in Deutschland, gegenwärtig in Frankreich. Wie verändert die Erfahrung im Exil ihren Blick auf die Türkei?
Selek: Ich lebe anders als die ältere Migrantengeneration. Ich war nie wirklich von der Türkei abgeschnitten. Jeden Tag nehme ich über Skype an Veranstaltungen, Seminaren und Diskussionen teil. Ich versuche hier auf eine Weise zu leben, die ich mir schon im Gefängnis angeeignet hatte: Wenn ich schon einmal hier bin, versuche ich so gut es geht von den Möglichkeiten, die sich mir im Exil bieten, zu profitieren. Durch den Blick aus der Ferne habe ich zum Beispiel gesehen, dass die feministische Bewegung in der Türkei im Vergleich zu anderen Ländern viel weiter entwickelt ist.
Der Blick von außen hat sich auch auf meine Forschungsarbeiten an der Universität ausgewirkt, meine Analysen sind nun viel breiter angelegt. Ich habe hier wirklich sehr viele gute Erfahrungen gemacht. Ich bin nicht mehr die Person, die ich einmal war. Sicherlich hätte ich mich auch verändert, wenn ich in der Türkei geblieben wäre, aber ich habe Begegnungen gemacht, die mich sehr bereichert haben und die ich niemals erwartet hätte. Das hat sich auch auf meinen neuen Roman ausgewirkt. Ich denke, dass er nicht so inhaltsreich geworden wäre, hätte ich ihn in der Türkei geschrieben. Aber natürlich: Viel lieber wäre ich in der Türkei geblieben.
Interview: Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de