Abschied vom "islamischen Vatikan"?
Herr Öktem, wie nimmt die türkische Religionsbehörde "Diyanet" Einfluss auf Moscheegemeinden in Deutschland?
Kerem Öktem: Man darf sich den Einfluss nicht so ganz unvermittelt vorstellen, da es sich um eine Organisationsform mit zwei Ebenen handelt. Auf der einen Seite stehen "Diyanet" und die übergeordneten Strukturen von "DITIB", auf der anderen die im deutschen Alltagsleben verwurzelten Moscheegemeinden.
Die türkische Religionsbehörde "Diyanet" entsendet und besoldet die Imame für die Moscheen des "DITIB"-Verbandes in Deutschland. Sie unterstehen den Religionsattachés an den türkischen Konsulaten. Die Imame vertreten also weitgehend eine in der Türkei verfasste Spielart islamischer Lehre und Praxis. Es gibt also einen mehr auf der Graswurzel-Ebene in Deutschland verankerten Teil der Moscheegemeinden und einen anderen Teil, der über "DITIB" und "Diyanet" der Türkei zugewandt ist.
Beeinflusst "Diyanet" auch direkt die Debatten in Deutschland?
Öktem: Die direkte Einflussnahme ist nicht die Regel. In der Debatte um die religiöse Beschneidung zum Beispiel haben es die islamischen Verbände weitgehend den jüdischen Organisationen überlassen, sich zu äußern. Die Religionsattachés an den türkischen Konsulaten nehmen zu internen deutschen Debatten keine Stellung. Für "DITIB" sprechen in der deutschen Öffentlichkeit jene Akteure, die auf Dauer hier leben und arbeiten.
Gibt es auch abweichende Positionen zwischen "DITIB" und "Diyanet"?
Öktem: Die "DITIB“ wird nicht stark abweichen von den offiziellen "Diyanet"-Positionen, aber diese werden durchaus in internen Prozessen verhandelt. Die Einflussnahme des "Diyanet" ist mehr struktureller Natur. Aber innerhalb dieser Struktur gibt es Raum für die Akteure, die als Teil der Arbeitsmigration nach Deutschland gekommen sind und schon sehr lange hier leben. Das können auch zum Beispiel Imame sein, die ursprünglich von dem "Diyanet" nach Deutschland entsandt wurden, dann hier geblieben sind und sich mehr und mehr am deutschen Kontext orientieren. In der öffentlichen Debatte sind das eher die Stimmen, die gehört werden.
Löst sich die jüngere Generation langsam von dem "Diyanet" ab? Zum Beispiel wenn lokale Netzwerke wie die "Schura Hamburg" entstehen, zu dem auch DITIB-Moscheegemeinden gehören?
Öktem: Grundsätzlich gibt es in Deutschland ein Spannungsverhältnis zwischen der Hinwendung zum Land, in dem man einerseits lebt und andererseits zu den Strukturen, die in vielen Verbänden immer noch auf die Türkei ausgerichtet sind. Durch die "Schura Hamburg", den Zusammenschluss von Moscheegemeinden in der Stadt, ist eine neue Organisationsform entstanden und dadurch wird der Druck zur Lokalisierung stärker. Wir sehen auch bei der "DITIB" ganz klar eine Hinwendung zu Deutschland.
Wie hat sich das "Diyanet" unter dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan verändert?
Öktem: "Diyanet“ ist Anfang der 1980er Jahre in Deutschland aktiv geworden und hat den "DITIB"-Verband auch gegründet, um damit dem Konkurrenten "Milli Görüs" das Wasser abzugraben. "Milli Görüs" galten damals in der Türkei als staatsfeindlich und man wollte die türkischen Gemeinden hier wieder "heimholen" in einen kemalistischen Staatsislam. Aber unter der AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan ist die Kluft zwischen Staatsislam und islamischen Bewegungen kleiner geworden. Früher waren "DITIB" und "Milli Görüs" parallele Organisationen, die zumindest auf offizieller Ebene nichts miteinander zu tun haben wollten. Heute ist das Verhältnis sehr viel durchlässiger. Die "Ditib" organisiert auch größere Veranstaltungen z.B. zum Geburtstag des Propheten, zu dem dann alle anderen türkisch-islamischen Organisationen und Dachverbände eingeladen werden.
Trotzdem blendet das "Diyanet" doch einen Teil der religiösen und der ethnischen Vielfalt in der Türkei aus?
Öktem: Ja, zum Beispiel die Aleviten. In staatlichen türkischen Institutionen ist für sie eher wenig Platz. Für die Kurden gibt es dagegen heute mehr Möglichkeiten. Aber den Aleviten bieten diese Netzwerke keine Wahlmöglichkeiten. In Deutschland orientieren sie sich daher stärker an der deutschen Gesellschaft und werden auch von staatlicher Seite als Partner geschätzt.
Wird der Einfluss des "Diyanet" durch die Einrichtung von Lehrstühlen für islamische Theologie an deutschen Universitäten zurückgehen?
Öktem: Auf längere Sicht schon. Das "Diyanet" hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Besetzung von islamischen Lehrstühlen in Deutschland ohne eine Kooperation mit der Religionsbehörde nicht wünschenswert sei. Aus Sicht des "Diyanet" besteht die Gefahr, dass eine Form des Islam in Deutschland an Einfluss gewinnt, die das türkische Element weniger berücksichtigt. Das liegt nicht im Interesse einer Organisation des türkischen Staates, die den Staatsbürgern auch in der Diaspora das Türkischsein vermitteln möchte.
Der DITIB-Verband ist aber in den Beiräten der theologischen Lehrstühle vertreten.
Öktem: Die Position des "Diyanet" war bis 2012 eher abweisend. Dennoch hat die "DITIB" von Anfang an versucht, beim Aufbau der Lehrstühle mitzuwirken. Es gibt aber andere Beispiele in Europa, wo das "Diyanet" die Gestaltung eines theologischen Lehrstuhls beeinflusst hat. Die Professur für Islamische Theologie in Straßburg ist mit einer eindeutigen türkischen Perspektive ausgestattet worden. Ein Großteil der Veranstaltungen wird auf Türkisch abgehalten. Die islamisch-theologischen Fakultäten in Deutschland konnten eine derartige klare Orientierung auf die Türkei umgehen. Das kann langfristig dazu führen, dass sich "Diyanet" und "DITIB" neu positionieren müssen.
Beeinflusst die deutsche Debatte auch die Politik der türkischen Religionsbehörde?
Öktem: Zurzeit noch wenig. Aber wenn sich in Deutschland eine eigene islamische Theologie entwickelt, dann wird sie auch Impulse geben für die Debatten um Islam und Moderne in der Türkei und in anderen islamischen Ländern. Das sind mittel- bis langfristige Wirkungen, wenn die Lehrstühle erst einmal ihren Platz in der deutschen Wissenschaftslandschaft gefunden haben. Kritische Perspektiven und Methoden aus der christlichen Theologie sowie kultur- und religionsvergleichende Aspekte können einfließen. Das wird die islamische Theologie bereichern.
Wie wird sich das Verhältnis der Türkei zu ihrer Diaspora verändern?
Öktem: Der deutsche Staat will, dass sich Menschen türkischer Herkunft langfristig als deutsch verstehen, das ist ein zentrales Integrationsziel. Natürlich stellt sich hierbei die Frage, ob der Integrationsdruck der Mehrheitsgesellschaft auch mit einem geeigneten Angebot zur Integration einhergeht. Die türkische Diasporapolitik ist aus dieser Sicht nicht wünschenswert, weil sie die Individuen eher an der Türkei orientiert. Aber eine liberale Gesellschaft darf ihren Mitgliedern diese Wahlmöglichkeit nicht nehmen.
Es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung, wenn man auch hierzulande islamische Theologie studieren kann und dazu nicht auf staatliche Institutionen in der Türkei zurückgreifen muss. Es wird aber wohl noch lange dauern, bis die islamische Theologie ein Profil entwickelt, das über die Grenzen Deutschlands hinauswirkt.
Interview: Claudia Mende
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Dr. Kerem Öktem ist Dozent für Soziologie der Religionen an der University of Oxford.