Transkultureller Dialog über Aufklärung
Wie ist es zu diesem west-östlichen, interkulturellen Dialog gekommen?
Michael Roes: Rachid Boutayeb hat mich nach einer Veranstaltung – ich glaube, es war die Berliner Premiere meines Dokumentarfilms „Stadt des Glücks“, den ich 2003 in Algerien gedreht habe – angesprochen. Aus dieser ersten Begegnung wurde ein bis heute anhaltendes Gespräch.
Mit welchen Erwartungen haben Sie Marokko verlassen, was erwarteten Sie in der Fremde zu entdecken?
Rachid Boutayeb: Als ich Marokko verlassen habe, dachte ich vor allem an eine Sache, endlich frei zu leben und zu sein. Nicht, weil ich Marokko wie ein Gefängnis erlebt habe, ganz im Gegenteil, aber ich wollte mich einfach von der Macht der Familie befreien.
Man fühlt sich nie wohl im Haus des Vaters, und das wissen wir seit Kafkas „Brief an den Vater“. Nach all meinen Irrfahrten und all den Jahren, die ich in der Fremde verbracht habe, merke ich, wie illusionär mein Bestreben war, mich vom Vater und von der Vaterkultur zu befreien. Man kann nicht einfach der Vergangenheit den Rücken kehren. Die unaufgearbeitete Geschichte taucht immer wieder auf.
Im Autorentext ist von Ihrem „Interesse an der Interaktion mit dem Fremden“ die Rede. Ist „Distanz“ da vornehmlich räumlich zu verstehen?
Michael Roes: Nein, Distanz ist in diesem Kontext kein räumlicher, kein topographischer, sondern ein kultureller, ein kommunikativer Begriff: Wie kann ich mich mit dem Anderen verständigen und mich rückversichern, ihn „richtig“ zu verstehen und von ihm „richtig“ verstanden zu werden? Diesem „Anderen“ begegne ich von Geburt an, er ist nicht der „Fremde“ im umgangssprachlichen Sinne, sondern immer der Nächste (der Vater, die Geschwister, die Mitschüler...), der mir – gewählt oder schicksalhaft – nahe ist, ohne mir schon vertraut zu sein.
Sie bekennen sich zur europäischen Aufklärung, kritisieren aber zugleich den strengen Säkularismus. Was würden Sie an dessen Stelle setzen?
Rachid Boutayeb: Auch die Aufklärung braucht Aufklärung und auch die Säkularisierung braucht eine Säkularisierung. Damit meine ich eine Säkularisierung, die jenseits jeder Form der Zugehörigkeit stattfindet. Ja, es gibt kein Zusammenleben ohne Säkularisierung, weil nur innerhalb einer säkularen Gesellschaft die gesellschaftliche Kommunikation möglich ist, aber ich wünsche mir eine Säkularisierung, welche die Pluralität fördert und nicht hindert und welche die Andersheit des Anderen nicht zu assimilieren sucht.
Ja, ich bin gegen jede Form des dogmatischen Kommunitarismus, gleichzeitig aber lehne ich die arrogante Haltung der Säkularisten ab, die die Form einer herrschenden Ideologie annimmt, wie es in Frankreich der Fall ist. Zweifelsohne sind die Gedanken von Habermas über die Postsäkulare Gesellschaft in diesem Kontext von großem Interesse.
Gibt es Konstellationen, in denen es nicht möglich ist, über den Menschen zu reden, ohne über Gott zu reden? Was hieße das für einen aufklärerischen Diskurs?
Michael Roes: Möglicherweise gibt es sie, in Koranschulen oder theologischen Seminaren, aber nicht für mich. Jeder theologische Diskurs über Gott gründet auf irrationalen und solipsistischen Annahmen, über die keine Verständigung möglich ist. Natürlich können wir in einem anthropologischen oder soziologischen Rahmen über Glauben und Religion reden, dem Gläubigen aber verstellt immer die „Offenbarung“ den klaren, den aufgeklärten Blick auf den Menschen.
Welches Verhältnis sollten Intellektuelle in Deutschland zum Islam einnehmen? Welche Maßstäbe sollten sie bei der Bewertung anlegen?
Rachid Boutayeb: Wir haben in Deutschland mit verschiedenen Ansichten bezüglich des Islam zu tun. Es gibt Stimmen aus der Migration, die weder den Islam noch die Moderne verstanden haben. Sie verbreiten einen vulgären Diskurs über den Islam. Sie schreiben auch, was der herrschende Diskurs von ihnen verlangt oder ihnen vorschreibt.
Wir haben es aber auch mit einem anderen Diskurs zu tun, wovon man, vor allem als Muslim, vieles lernen kann, und damit meine ich die Arbeiten der deutschen Islamwissenschaftler, die zweifelsohne einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung des Islam darstellen. Was der Islam heute aber braucht, ist eine unbedingte Kritik, weil man nur in der Kritik solidarisch sein kann.
Müssen an den Islam als Minderheitenreligion angesichts der alltäglichen Diskriminierung in Deutschland andere Kriterien angelegt werden als an das Christentum?
Michael Roes: Nein. Eben das bedeutet Diskriminierung: Unterscheidung, wo es sich im Wesen um Gleiches handelt.
Worin liegen die Möglichkeiten eines philosophischen Gesprächs? Welchen Erkenntnisgewinn kann es bringen? Und an welche Grenzen stößt das Konzept?
Rachid Boutayeb: Ich weiß wirklich nicht, ob man unser Gespräch nur als philosophisch bezeichnen kann. Wir haben kein philosophisches Gespräch angestrebt, zumindest was mich betrifft, wollte ich eher die Geschichte unserer Begegnung schreiben, mehrstimmig schreiben. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man im Gespräch auch vieles über sich selbst erfährt und nicht nur über den Anderen. Das Gespräch ist eine Kunst, die Kunst vom anderen zu lernen. In diesem Zusammenhang sind die Konzepte eher überflüssig!
Michael Roes: Ich würde nicht von Möglichkeiten, sondern von den Notwendigkeiten des – nicht nur philosophischen – Gesprächs reden. Es ist vor allem und womöglich ausschließlich das Gespräch, das mir und dem anderen eine Identität verleiht und meine Wahrnehmung der Wirklichkeit auf den Prüfstand stellt.
Eine absolute Wahrheit gibt es nicht, aber eine Rückversicherung durch das Gespräch, dass meine Wahrnehmung sich der Eigenrealität der Welt zunehmend annähert, die vielleicht ja aus nichts anderem als der Summe aller möglichen Sichtweisen auf sie besteht.
Interview: Martin Bauer
© Humanistischer Pressedienst (hpd) 2014
Rachid Boutayeb / Michael Roes: Der eifersüchtige Gott. Ein Gespräch. Aschaffenburg: Alibri 2013, 91 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-165-1