"Die Taktiken der Extremisten durchleuchten"
Im Januar 2018 hat Sie Premierministerin Theresa May zur Leiterin der Kommission zur Extremismusbekämpfung im Innenministerium ernannt. Wie wollen Sie Extremismus in Großbritannien bekämpfen?
Sara Khan: Extremismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, deswegen erfordert es eine gesamtgesellschaftliche Lösung. Alle spielen eine Rolle darin, die Schulen, die Regierung, die Zivilgesellschaft, die religiösen Führer. Wir haben diese Antwort auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bisher nicht gefunden und genau daran arbeiten wir. Diese Kommission ist neu, deswegen wollen wir erst einmal beim Bewusstsein ansetzen.
Welche konkreten Ziele verfolgen Sie?
Khan: Erstens rauszugehen und Menschen zu erreichen. Ich war in rund 30 Städten und Dörfern in England und Wales. Ich habe mit Tausenden Akademikern, Gruppen aus der Zivilgesellschaft und Regierungsvertretern gesprochen, um die Herausforderung besser zu begreifen.
Das zweite Ziel ist eine Studie. Wir haben bisher keine breit angelegte Untersuchung, die uns das Gesamtbild des Problems zeichnet. Wir fragen nach der öffentlichen Wahrnehmung, wollen die Taktiken der Extremisten durchleuchten und den Schaden, den sie anrichten. Dafür haben wir auch eine Beratungsstelle eingerichtet. Ganz wichtig sind aber die möglichen Antworten. Wir wollen Empfehlungen aussprechen und ein Programm erstellen.
Vor welchen Herausforderungen genau steht Großbritannien, wenn es um Extremismus geht?
Khan: Es gibt viele unterschiedliche Arten von Extremismus in Großbritannien. Aber manche sind prominenter und stellen eine größere Gefahr dar als andere. Wir sehen jetzt einen starken Anstieg des Rechtsextremismus, in den letzten beiden Jahren. Der islamistische Extremismus ist auch ein großes Thema. Alleine 2018 hatten wir fünf Terroranschläge, vier davon waren islamistisch motiviert, einer rechtsextremistisch. Es gibt aber auch linken Extremismus, extremistische Gruppierungen in der Sikh-Community oder bei jüdischen Gruppen.
Zu glauben Extremismus wäre nur islamistisch, ist grundsätzlich falsch. Extremismus kann jeder politischen Ideologie oder Religion entspringen und kann jede Gruppe auf der ganzen Welt treffen. Es gibt einen Anstieg aller Arten von Extremismus, ob die Neonazis in Deutschland, die Hindu-Nationalisten in Indien oder die muslimischen Fundamentalisten.
Was haben all diese Extremisten denn gemeinsam?
Khan: Viele extremistische Ideologien fördern ein "Wir" gegen "die Anderen"-Denken. Es wird Hass gegen andere Gruppen geschürt und Rassismus verbreitet. Extremisten glauben nicht an universelle Menschenrechte. Sie greifen Menschen an, weil sie vermeintlich anders sind. Extremisten mögen keine Diversität in der Gesellschaft. Deswegen müssen wir diese Werte, die Menschenrechte, die Gleichheit aller Menschen und die Pluralität verteidigen.
Welche Rolle spielen Frauen in diesem Kampf?
Khan: Frauen stark zu machen, hat Folgen für das ganze Land. Frauen sind meist die stärksten Kämpferinnen gegen Extremismus, weil sie die Auswirkung extremistischen Gedankenguts in ihrer eigenen Familie sehen können. Mir begegnen immer wieder Frauen, die sehr mutig sind.
Wir hatten bereits spezielle Programme für muslimische Frauen, in denen wir ihnen zum Beispiel theologische Gegenargumente vermittelten. Die Partizipation von Frauen hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. 2015, nachdem der IS sein Kalifat ausrief, haben wir eine Anti-IS-Kampagne durchgeführt. Dabei spielten Frauen und Mütter eine wichtige Rolle. Wir haben ihnen Werkzeuge an die Hand gegeben, wie sie ihre Kinder vor diesen Ideologien beschützen können. Wenn sie einem Imam über den Weg laufen, der Hass predigt, dürfen sie das nicht einfach ignorieren, sondern müssen etwas dagegen tun.
850 Briten haben sich dem IS angeschlossen, rund die Hälfte kehrte wieder zurück. Warum radikalisieren sich Jugendliche in Großbritannien?
Khan: Es gibt viele Gründe, die individuell oder sozial sein können. Es geht aber meist um Ideologien, extremistische Propaganda, Identität und Zugehörigkeit. Auch wenn man vielleicht einfach keine Gegenargumente kennt, spielt das eine Rolle. Soziale Medien sind auch entscheidend. Da ist es in Großbritannien nicht anders als woanders. Es gibt einen Mangel an Respekt vor anderen und sehr viel Spaltung momentan. In Dialog zu treten, andere Meinungen und Sichtweisen zu hören, kann sehr viel Positives bewirken.
Was denken Sie, wie sieht die Zukunft aus? Wird dieses Erstarken von Extremisten bald wieder vorbei sein?
Khan: Wir leben in einer Zeit des Extremismus. Wenn wir uns die Weltlage ansehen, ist das sehr besorgniserregend und düster. Und ich denke auch nicht, dass sich das bald bessern wird. Wir müssen daher alles tun, um dem Extremismus Einhalt zu gebieten. Staaten müssen die Gleichheit, Diversität und Menschenrechte für all ihre Bürger sicherstellen. Diese Werte sind entscheidend, weil genau sie von Extremisten bedroht werden.
Waren Sie selbst Zielscheibe von Extremisten?
Khan: Das ist ein Teil meiner Arbeit, daran gewöhnt man sich mit der Zeit. Das passiert aber nur, weil Extremisten nicht wollen, dass wir tun, was wir tun. Das bedeutet für uns, dass wir weitermachen müssen. Das muss man einfach verdrängen. Diese Arbeit ist einfach zu wichtig, um nicht gemacht zu werden. Sie hat Auswirkungen auf uns alle.
Das Gespräch führte Nermin Ismail.
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Sara Khan hat 2008 die Frauenorganisation "Inspire" mitgegründet, um präventiv gegen Extremismus vorzugehen und Geschlechtergerechtigkeit zu schaffen. Mit Videos versuchte die NGO beispielsweise die IS-Propaganda zu widerlegen und erreichte damit tausende Klicks. Vor allem versucht Khan, junge Frauen und Mütter zu erreichen und zu sensibilisieren. Die pakistanischstämmige Britin ist außerdem Autorin eines Buches über muslimische Identität und Extremismus.