"Durch Schweigen werde ich zur Mittäterin"
Frau Ates, Sie widmen Ihre Autobiographie "Große Reise ins Feuer" vor allen Frauen, die nicht frei leben können und dürfen. Sie sind kurz vor Ihrem 18. Geburtstag von zu Hause ausgerissen, um sich selbstbestimmt entwickeln zu können. Ein Schritt in die Freiheit scheint oft zugleich ein Schritt aus der Familie zu bedeuten.
Seyran Ates: Sich innerhalb der Familie zu entwickeln, ist sehr schwierig, wenn man in solch einer traditionellen Familie lebt, wie das bei mir der Fall war. Durch meine Arbeit kenne ich Frauen, die schon längst volljährig sind, aber mit einer Selbstverständlichkeit bei den Eltern leben, weil sie muslimische Frauen sind.
Solange sie nicht verheiratet sind, erhebt die Familie den Anspruch, dass die Frau – für die Familie bleibt sie jedoch das Kind – bei ihr lebt. Und es sind heute noch sehr viele Familien so strukturiert, dass es sehr schwierig ist, innerhalb dieser Familien eine Entwicklung dahingehend zu machen, dass die Familie akzeptiert, dass eine Frau, wie ich zum Beispiel, unverheiratet mit einem Mann zusammenlebt. Ich habe jetzt ein Kind, ein uneheliches Kind – ja, ich war nie geheiratet, und jetzt bin ich eine alleinerziehende Mutter. Und das alles akzeptiert meine Familie inzwischen. Doch hätte sie das nie angenommen, wenn ich in der Familie geblieben wäre.
Und warum?
Ates: Meine Familie hat einen Schock erlebt und ist durch eine Krise gegangen. Irgendwann war ich wieder bereit, mich ihr anzunähern und sie war dann doch offenen Herzens für mich. Wir haben viele Gespräche geführt, es gab viele Auseinandersetzungen, Streit und Versöhnung…, so hat sich das über Jahre hinweg entwickelt. Man darf nicht vergessen, dass ich 1981 abgehauen bin, damals war ich knapp 18, und heute bin ich 45 Jahre alt. Es ist mittlerweile so, dass meine Eltern, ich würde sagen zu 80 Prozent, meinen Lebensstil akzeptieren. Es bleibt immer ein Rest, von dem sie lieber nichts wissen wollen.
Man geht ein Risiko ein, wenn man den Schritt wagt, von zu Hause abzuhauen. Auch wenn man Geduld hat, ist es nicht sicher, dass irgendwann wieder Familienfrieden einkehrt…
Ates: Man geht auf jeden Fall ein Risiko ein und es gibt Frauen und Familien, die überhaupt keinen Kontakt mehr zueinander haben, aber dies ist erfahrungsgemäß die Minderheit. Doch wenn man nicht bereit ist, dieses Risiko einzugehen, wird man im eigenen Leben nicht zur Freiheit finden.
Eine Frau in einer solchen Situation steht vor der Frage: Entscheide ich mich dafür, dass meine Familie glücklich ist oder für mein eigenes Leben? Das muss jede Frau für sich selbst entscheiden. Ich finde, die richtige Entscheidung ist immer, zuerst zu sagen: Wenn ich glücklich bin, dann kann meine Familie irgendwann auch glücklich sein. Um dahin zu kommen, dass beide Seiten glücklich sind, muss man erst mal zu sich selbst finden: heraus aus diesem "Wir-Bewusstsein" hin zu einem "Ich-Gefühl", das sehr viele muslimische Menschen eben gerade nicht haben. Und dann kann man wieder in die Gruppe zurückgehen.
Es gab eine Zeit, in der Sie sich sehr zwischen der türkischen und der deutschen Kultur zerrissen fühlten. Vor allem während der Schulzeit war dieses Gefühl extrem stark. Dann kam eine lange Zeit, in der Sie von der türkischen Kultur Abstand genommen haben.
Ates: Für mich war diese Zeit sehr wichtig. Ich habe nach 15 Jahren Abstand von der türkischen Kultur wieder den Kontakt zu ihr gesucht und gefunden. Ich habe nämlich gemerkt, dass ich 15 Jahre lang einen Teil von mir vernachlässigt hatte. Ich habe ihn vernachlässigt, weil ich bis dahin nur Schlechtes in der türkischen Kultur erfahren hatte: Ich wurde als Frau nicht akzeptiert – und das war für mich das Wichtigste; und genauso wenig bin ich als frei denkender Mensch anerkannt worden.
All das fand ich eher in der deutschen Welt wieder. Aber die türkische Kultur ganz zu verlassen, wäre nicht richtig gewesen. Mir hätte etwas gefehlt. Ich habe gemerkt, dass sie ein Teil von mir ist, der so tief in mir verwurzelt ist, dass ich, wenn ich ihn lösche, aus meiner Seele etwas streiche.
In Ihrem Buch "Multikulti-Irrtum" schreiben Sie, dass sich in der Transkulturalität unterschiedliche Kulturen begegnen und austauschen – im Gegensatz zur Multikulturalität, in der die Einzelkulturen nebeneinander existieren. Und während ein Mensch zwischen den Kulturen wechselt, vermischen sich diese jeweiligen Kulturen und es entstehen neue, "transkulturelle" Identitäten, die dieser Mensch in sich vereinigt. Mehrere Identitäten – das klingt erst einmal nach Spaltung, Zerrissenheit. Aber inzwischen sagen Sie, dass Sie Ihre Bikulturalität als Reichtum und nicht als "latente Schizophrenie" empfinden...
Ates: Wenn man akzeptiert, dass es für jede Kultur und Identität dazugehört, dass man sich mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandersetzt, wenn man in ihnen lebt, wirklich sie auch erlebt, dann funktioniert das. Ich lebe seit fast 40 Jahre in Deutschland und ich habe mich mehr als 20 Jahre bewusst mit dieser Thematik auseinandergesetzt, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wer ich bin. Diese Auseinandersetzung muss man schon führen, wenn man am Ende so bereichert sein will, wie ich es inzwischen bin.
Was geben Sie Ihrer kleinen Tochter mit auf den Weg?
Ates: Meine Tochter hat zunächst zwei Muttersprachen. Damit gebe ich ihr auch zwei Kulturen mit. Ich habe eine transkulturelle Identität und ich erlebe es jetzt bei meiner Tochter, dass sie auch beide Kulturen annehmen kann. Das tut sie auch mit Freude und schöpft für sich Wissen aus der Vielfalt. Ich gebe ihr weiter, dass beide Kulturen ein Teil von ihr sind, weil sie auch ein Teil von mir sind, und dass ich sehr glücklich darüber bin, dass wir beide Kulturen teilen können. Wir haben eine weitgehend türkisch sprechende Familie. Wir haben eine Deutsch sprechende Umgebung. Mir ist es sehr wichtig, dass meine Tochter verschiedene Sprachen lernt und unterschiedliche Kulturen erfährt, und dass sie versteht, dass diese gleichwertig nebeneinander stehen können.
Sie haben kein Namensschild an der Tür und keine offizielle Adresse. Sie haben ein schweres Attentat überlebt, waren Angriffen ausgesetzt und haben Morddrohungen erhalten. Denken Sie daher nicht oft, dass die Folgen Ihrer Arbeit nicht mehr tragbar sind, gerade als Mutter?
Ates: Das ist tagtäglich eine schwierige Entscheidung. Ich wusste von Anfang an, dass es schwierig ist; das habe ich ja mit 21 Jahren bei dem Attentat massiv erlebt. Aber ich glaube, ich würde in eine tiefe Depression verfallen, wenn ich diese Arbeit nicht mehr machen würde. Mir würde es viel schlechter gehen, als es mir jetzt geht, weil ich nachgeben würde und weil ich die Hilfe, die ich vielen Menschen geben könnte, dann nicht geben würde. Wenn alle Menschen den Mund halten, passiert nichts – ich möchte lieber zu denen gehören, die etwas tun. Ich will nicht schweigen, denn durch Schweigen werde ich zur Mittäterin.
Interview: Naima El Moussaoui
© Qantara.de 2008
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Projekts "Meeting the Other" mit dem Online-Magazin babelmed.net im "Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs". Mehr Informationen zu diesem Projekt finden Sie hier
Qantara.de
Interview mit Seyran Ates
Der Multikulti-Irrtum
Die Anwältin und gebürtige Türkin Seyran Ates steht für eine Neuorientierung der deutschen Einwanderungspolitik. Sie fordert weniger Toleranz gegenüber den Muslimen auf der einen Seite, und mehr Entgegenkommen der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite. Über ihr neues Buch "Der Multikulti-Irrtum" sprach Kathrin Erdmann mit ihr.
Musliminnen in Deutschland
Von Kronzeugen und Halbwahrheiten
In den Diskussionen über Ehrenmorde und Zwangsheiraten sollten komplexe Sachverhalte weder reduziert, noch soziologisch verzerrt oder unverhältnismäßig überbewertet werden, wie Sabine Schiffer am Beispiel Necla Keleks und Seyran Ates erläutert.
Zwangsverheiratung
In Deutschland noch immer ein Tabuthema
Nach UN-Studien werden jedes Jahr über eine Million Menschen gewaltsam zur Ehe gezwungen. Die in Berlin lebende Rechtsanwältin Seyran Ates kämpft seit Jahren dafür, dass die Zwangsverheiratung in der deutschen Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird. Ein Bericht von Sigrid Dethloff