''Israel wurde auch einseitig ausgerufen''
Sie sind ein Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt. Was halten Sie davon, dass die Palästinenser die Vereinten Nationen bitten wollen, einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 anzuerkennen?
Uri Avnery: Ich bin absolut dafür. Am besten wäre es natürlich, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließen würde, den Staat Palästina in die Vereinten Nationen aufzunehmen. Das ist aber unmöglich, da das US-amerikanische Veto das verhindern wird. Darum müssen die Palästinenser sich an die Generalversammlung wenden, die nicht die Befugnis hat, den Staat Palästina in die Vereinten Nationen aufzunehmen, aber den Staat Palästina anerkennen kann. Man darf nie vergessen, dass auch der Staat Israel auf Grund eines Beschlusses der UN-Generalversammlung besteht.
Sie meinen, dass David Ben Gurion und seine Kollegen am 14. Mai 1948 den Staat Israel allein, einseitig erklärt haben und dieser dann letztendlich aufgrund einer von der UN- Vollversammlung angenommenen Resolution proklamiert wurde? Ist das vergleichbar?
Avnery: Ja, ist es. Im November 1947 hat die Generalversammlung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen, das Land Palästina zwischen zwei neuen Staaten zu teilen – einem jüdischen Staat und einem arabischen Staat. Ein paar Monate später hat Ben Gurion den Staat Israel ganz einseitig ausgerufen.
Der Staat Palästina ist nie ausgerufen worden, weil das Gebiet, das zu diesem Staat gehören sollte, zum Teil von Israel erobert worden ist und zum Teil von Jordanien und Ägypten annektiert wurde. Jetzt wollen die Palästinenser ihr Gebiet, und es handelt sich um 22 Prozent des ehemaligen Landes Palästinas, als ihren Staat ausrufen. Ich denke, kein Mensch auf der Welt hat das Recht, zu verhindern, dass die Palästinenser einen unabhängigen Staat bekommen.
Wird Israel denn einen einseitig ausgerufenen palästinensischen Staat anerkennen?
Avnery: Israel wird diesen Staat nicht anerkennen, egal ob er einseitig ausgerufen wird oder nicht. Die jetzige Regierung Israels will keinen Staat Palästina. Sie will keinen einzigen Quadratmeter des Landes Palästinas abgeben. Darum geht es ja im Grunde genommen. Es ist der Kampf der Palästinenser um das Recht ihren eigenen Staat zu haben und die israelische Besatzung zu beenden.
Kann man denn überhaupt von einseitig sprechen, wenn das Anliegen von Mahmud Abbas und seinen Kollegen vor 193 UN-Staaten vorgelegt wird?
Avnery: Einseitigkeit ist ein Propaganda-Wort, das im Grunde nichts besagt. Der Staat Israel ist auch einseitig ausgerufen worden und dann von großen Teilen der Welt anerkannt worden. Der Staat Palästina wird auch einseitig ausgerufen. Was bedeutet das schon? Wenn die Welt das anerkennt, dann besteht dieser Staat.
Welche Möglichkeit haben die Palästinenser denn noch, wenn sie einen eigenen Staat gründen wollen?
Avnery: Vorläufig haben die Palästinenser keine andere Möglichkeit einen Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Avnery war der erste Israeli, der sich mit Jassir Arafat getroffen hat Staat Palästina zu gründen.
Die jetzige Regierung Israels will keinen Staat Palästina und will auch keinen Frieden. Und das bestätigen sie jeden Tag, weil jeden Tag die israelischen Siedlungen in diesem ganzen Gebiet ausgebaut werden. Alle Teile der israelischen Departements sind täglich damit beschäftigt, die Siedlungen auszubauen und neue Straßen nur für Israelis zu bauen. Sie schaffen so genannte "Tatsachen auf dem Boden", um damit die Entstehung eines Staates Palästinas für immer zu verhindern.
Es gibt ja auch viele internationale Stimmen, die gegen die einseitige Ausrufung eines palästinensischen Staates sind. Netanjahu hat eine Rückkehr auf die Grenzen von 1967 ausgeschlossen. Wie kann da ein großer Teil der internationalen Gemeinschaft gegen die einseitige Ausrufung eines Staates sein, wenn es auch keine Verhandlungsgrundlage mehr gibt?
Avnery: Die internationale Gemeinschaft einschließlich Deutschlands hat im Laufe der letzten Jahrzehnte eine unglaubliche Heuchelei entwickelt. Alle Regierungen dieser Welt wissen, dass, wenn man Frieden haben will, ein Staat Palästina entstehen muss. Und auch, dass Frieden zwischen Israel und diesem Staat Palästina geschaffen werden muss. Und deshalb müssen zwei Staaten her. Eine andere Lösung gibt es nicht. Wenn man immer behauptet, man müsse darauf warten bis die israelische Regierung mit den Konditionen einverstanden ist, dann bedeutet es, dass Friedensverhandlungen keinen Sinn machen.
Tatsächlich haben alle Friedensverhandlungen der vergangenen Jahre keinen Sinn gemacht. Es war lediglich ein zynisches Spiel ohne jede Grundlage. Wenn Staaten wie Deutschland dann fordern, dass Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden müssen, dann ist das auch Heuchelei. Sie wissen genau, dass Friedenverhandlungen zu nichts führen werden, wenn die Regierung Israels keinen Staat Palästina haben will.
Die israelische Regierung hat angekündigt, dass sie die Oslo-Verträge über Bord werfen will, wenn Abbas wirklich im September vor die UN tritt. Muss Israel dann nicht seiner Verantwortung als Besatzer gerecht werden und auch die gesamten Kosten für die Verwaltung der Gebiete übernehmen? Macht so ein Schritt Israels überhaupt Sinn?
Avnery: Es ist noch nicht gesagt worden, dass das schon beschlossen ist. Eine israelische Behörde ist damit beauftragt, das zu untersuchen. Oslo rückgängig zu machen, bedeutet, in das totale Chaos zurückzufallen. Das würde bedeuten, dass die palästinensische Autonomiebehörde aufgelöst wird.
Das würde auch bedeuten, dass Israel wieder eine totale Besatzung herstellt und dann dafür verantwortlich ist, die Palästinenser zu versorgen. Außerdem würden auch die palästinensischen Sicherheitsbehörden, die den Terror verhindern, aufgelöst werden. Das ist eine unsinnige Idee und ich glaube auch nicht, dass meine Regierung diesen Unsinn beschließen wird.
Wie wird denn Israel reagieren, wenn ein Staat Palästina anerkannt wird von der UN-Generalversammlung?
Avnery: Alle praktischen Befugnisse liegen beim UN-Sicherheitsrat. Daher ist die israelische Regierung, meine Regierung, ziemlich indifferent gegenüber dem, was in der Generalversammlung passieren wird. Das Ganze hat einen großen moralischen Wert für die Palästinenser und der ist wichtig. Aber es ist von keinem praktischen Wert. Ein Staat Palästina, der anerkannt wird, wird nicht in die Vereinten Nationen aufgenommen.
Aber Sie sind dennoch dafür, dass Abbas das im September tut?
Avnery: Ja, das ist wichtig. Wenn der Staat Palästina international anerkannt wird, kann dieser Staat sehr viele Dinge tun, die er heute nicht tun kann. Zum Beispiel kann er sich an den internationalen Strafgerichtshof wenden. Ich weiß nicht, ob die Bundesrepublik den Status der palästinensischen Delegation zu einer Botschaft anheben wird, ich bezweifle das. Aber in vielen anderen Staaten, wie in Frankreich oder Skandinavien, werden die Palästinenser eine Botschaft bekommen und nicht mehr nur eine Delegation haben. Es ist ein Schritt vorwärts für die Palästinenser.
Die Frage ist doch auch: Wie lange können die Palästinenser unter dieser straffen militärischen Besatzung ohne Bewegungsfreiheit weiterleben? Wie lange dauert es dann noch bis die Lage in Palästina explodiert und das passiert, was in Ägypten passiert ist?
Die israelische Regierung hat nicht so sehr Angst vor dem Beschluss der Vereinten Nationen, die Israel sowieso immer ignoriert, sondern vielmehr vor dem, was im Volk passieren könnte. Ein Beschluss der Vereinten Nationen könnte zumindest so einen Aufstand verhindern und den Palästinensern auch das Gefühl geben, dass die Welt sie anerkennt. Das ist auch wichtig für Israel, denn noch heute will ein Großteil der israelischen Bevölkerung Frieden mit den Palästinensern, auch wenn wir eine rechte Regierung haben.
© Deutsche Welle 2011
Uri Avnery wurde 1923 in Beckum, Deutschland, geboren. Er ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der israelischen Knesset.
Das Gespräch führte Diana Hodali
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de