Herr Kadhimi will aufräumen
Sie war auf dem Nachhauseweg nach Feierabend, wie immer auf dem Fahrrad. Plötzlich stoppten zwei Jeeps neben ihr, rissen sie vom Rad und zerrten sie in eines der Autos. Hella Mewis, die deutsche Kulturmanagerin in Bagdad, ist seitdem verschwunden. Das irakische Innenministerium bestätigt die Entführung, ein kurdischer Parlamentsabgeordneter ebenfalls. Das Auswärtige Amt will sich dazu nicht äußern, doch die Bemühungen um die Freilassung der Berlinerin laufen. Erfahrungsgemäß sind die ersten 48 Stunden am wichtigsten. Dann können noch Spuren verfolgt werden. Je länger sich eine Geiselnahme hinzieht, desto schwieriger wird die Befreiung.
Die Entführung von Hella Mewis kommt zu einer Zeit großer Verunsicherung. In Bagdad herrscht eine angespannte Atmosphäre – aus mehreren Gründen. Der neue Premierminister Mustafa al-Kadhimi ist gerade mal zwei Monate im Amt und hat unzählige Baustellen zu beackern: Probleme mit Iran und den Amerikanern, Probleme mit den Milizen, mit dem Widererstarken des IS, eine schwere Finanzkrise wegen sinkender Ölpreise, die Corona-Pandemie, deren zweite Welle die Infektionszahlen gerade ins Kraut schießen läst und schließlich die Protestbewegung, in deren Folge er auf diesen Posten kam und die jederzeit wieder mobilisiert werden kann, wenn er nicht liefert.
Dritte Regierungsbildung nach monatelangem Machtkampf
Zwei Versuche einer Regierungsbildung schlugen fehl, seitdem im November Adel Abdul Mahdi nach monatelangen Protesten zurücktrat. Al-Kadhimi ist der dritte Versuch.
Der Journalist und seit 2016 Chef des irakischen Geheimdienstes begann seine Amtszeit mit einem Paukenschlag. Ende Juni ließ er eine Razzia in Bagdad am Sitz der mächtigen Kataib Hisbollah, einer dem Iran hörigen Schiitenmiliz durchführen, die beschuldigt wird, Anschläge gegen militärische Einrichtungen zu verüben. 13 Milizionäre wurden festgenommen, Raketenwerfer beschlagnahmt.
Seit Oktober 2019 fanden mehr als 30 Raketenangriffe auf Einrichtungen der US-Armee, US-Ölfirmen und die US-Botschaft statt. Meist richten die Angriffe nur geringen Schaden an, da sie willkürlich aus der Ferne mit ungelenkten Katjuscha-Raketen ausgeführt werden.
Im März aber waren bei einem solchen Angriff auf die Militärbasis Tadschi, nördlich von Bagdad, zwei US-Bürger und eine britische Soldatin getötet worden. In Tadschi sind auch deutsche Soldaten stationiert, die als Ausbilder der irakischen Armee dort tätig sind. Inzwischen hat das US-Kommando im Irak erklärt, es werde sich aus dem Land zurückziehen und nur noch hochrangige Ausbilder zurücklassen. Mit den Amerikanern gehen auch die anderen Partner der Anti-IS-Koalition.
Brisantes Vorgehen
Das Vorgehen gegen die Miliz war brisant, da die Kataib Hisbollah zum Führungskreis der Volksmobilisierungskräfte (Hashd al-Shaabi) gehört, die siegreich gegen den IS kämpften und nun in die irakische Sicherheitsstruktur integriert werden sollen. Al-Kadhimi rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Ziel, entschlossen gegen alle Gruppen agieren zu wollen, die sich außerhalb des Gesetzes stellen.
Außerhalb der irakischen Sicherheitskräfte dürfe es keine bewaffneten Einheiten geben. Die Hisbollah jedoch ist bekannt dafür, dass sie Operationen durchführt, die nicht auf Befehl des Oberbefehlshabers erfolgen, der Al-Kadhimi derzeit ist. Doch nur wenige Tage nach der Festnahme der Hisbollah-Kämpfer waren diese wieder auf freiem Fuß. "Er wird damit scheitern", prophezeit der Sprecher der Miliz, Mohammed Mohie, gegenüber dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera.
Es kommt derzeit nicht oft vor, dass Demonstranten für ihre Regierung auf die Straße gehen. Auch im Irak protestierten über ein Jahr lang Tausende gegen ihre Politiker, lieferten sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, bauten eine Zeltstadt im Herzen von Bagdad. Schließlich schaffte die Tahrir-Bewegung, dass der alte Premierminister zurücktrat, der zu wenig tat, um die Korruption zu bekämpfen, Reformen einzuleiten und vor allem junge Leute am politischen Prozess zu beteiligen.
Mit der Unterstützung der Protestbewegung
Jetzt hat sich das Blatt gewendet – zumindest vorübergehend. Der neue Regierungschef, Mustafa al-Khadimi, braucht die Unterstützung der Protestierer, um das durchzusetzen, was er sich vorgenommen hat und was auch ihre Forderungen sind. Um aufzuräumen im politischen Sumpf Irak, der nahezu undurchdringlich scheint, unüberwindbar.
Al-Kadhimi bittet die jungen Widerständler ihm zu helfen, damit ihre erklärte Revolution nicht im Nichts endet. Trotz Corona, Ausgangssperre und Maskenpflicht gingen sie letzte Woche auf die Straße, überquerten die Sinak-Brücke über den Tigris und marschierten in die Grüne Zone, dem bewachten Regierungsviertel, wo sie vor dem Sitz des Premiers ihm Mut zuriefen.
Doch eine tödliche Warnung für ihn und die Demonstranten kam postwendend. Am 7. Juli wurde Hisham al-Hashemi vor seinem Haus im Bagdader Bezirk Zayouna von vier Schüssen in seinem weißen Geländewagen getroffen. Seine Kinder mussten mit ansehen, wie der Körper ihres Vaters aus dem Auto geborgen wurde. Hashemi starb wenig später im Krankenhaus. Er galt als guter Freund Al-Kadhimis und als sein wichtigster Berater in Sachen Extremismus.
Schiitische Milizen als Staat im Staate
Wie kaum ein anderer kannte der 47-Jährige die Extremistengruppe bis ins kleinste Detail. Er wusste, wer die lokalen Ableger des IS anführte, welche Rolle die sunnitischen Stämme und deren Repräsentanten spielten oder wie der IS seinen Terror finanzierte. Zuletzt rückten immer stärker die mächtigen schiitischen Milizen in den Vordergrund seiner Recherchen, von denen sich manche der Kontrolle der Regierung entziehen und einen Staat im Staate bilden, den die iranischen Revolutionsgarden steuern. Der Mord an Hashemi wird deshalb als Warnung an den Premier verstanden, nicht zu forsch gegen Irans Einfluss und Interessen vorzugehen.
"Trotzdem könnte Al-Kadhimi Erfolg haben", meint Jacob Lees Weiss, Forscher bei der Jamestown Foundation in Washington und Kenner Iraks, "wenn er eine Balance findet." Er müsse den direkten Konflikt mit Iran meiden, aber Stärke in innen- und außenpolitischen Fragen zeigen.
Vor allem wirtschaftlich müsse er Akzente setzen und die Milizionäre der Hashd al-Shaabi ordentlich bezahlen. Dann würde der Einfluss Irans schwinden. Denn Teheran stecke derzeit in ernsten finanziellen Schwierigkeiten und könne die Zahlungen an ihre Milizionäre im Irak nicht mehr in vollem Umfang leisten.
Dass Al-Kadhimi weiter aufräumen will, zeigt eine Meldung der irakischen Nachrichtenagentur NINA vom 18. Juli, dass die irakische Regierung beschlossen habe, politische Parteien und Stammesführer zu entwaffnen. Dieses Dekret gelte zunächst für den Süden, die Provinz Basra. Dort sind in den letzten Monaten vermehrt Stammesfehden blutig ausgetragen worden und haben die Einwohner der Südmetropole verunsichert.
Da Milizen und Stämme fast ungehindert die Grenze am Shatt al-Arab zum Iran passieren können, werden jetzt die Übergänge zum Nachbarn befestigt. In Shalamcheh und Safwan soll moderne Technik für eine möglichst lückenlose Überwachung des Grenzverkehrs installiert werden und neue Abfertigungsanlagen entstehen. Bulldozer und Bagger sind schon aufgefahren.
Birgit Svensson
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