Rettet die Freiheit - auch die der anderen!

Die deutsche Gesellschaft verändert sich und jedes ihrer Mitglieder hat das Recht, sie mitzugestalten. Erst wenn in Deutschland jeder alles werden kann - eine Kopftuchträgerin Ministerin und ein Ahmad Verfassungsrichter - haben wir uns vom verkorksten Einwanderungsland zu einer erfolgreichen Integrationsgesellschaft entwickelt. Von Kristin Helberg

Essay von Kristin Helberg

Es ist schwer, dieser Tage die Freiheit zu verteidigen. Denn viele meinen damit nur noch ihre eigene Freiheit zu denken und zu tun was sie für richtig halten. Dass damit automatisch die Freiheit der anderen einhergeht, Dinge ganz anders zu machen als sie selbst, wollen sie nicht wahrhaben.

Dabei beginnt genau hier die Toleranz. Sie tut weh, weil wir Meinungen und Verhaltensweisen ertragen müssen, die uns gründlich gegen den Strich gehen. Etwa wenn jemand sein Gesicht tätowiert oder verhüllt, wenn Männer Männer küssen und Frauen lieber nicht die Hand eines fremden Mannes schütteln.

Womit wir beim Islam wären, der scheinbar größten Herausforderung unserer Toleranz. Er gilt als Quelle von Terror, Frauenfeindlichkeit und Gewalt, weswegen sich manch Retter des "jüdisch-christlichen Abendlandes" berufen fühlt, gegen eine "Islamisierung" zu kämpfen. Schade nur, dass er die Grundfesten unserer freiheitlichen Ordnung, die er vermeintlich retten will, dadurch zu Grabe trägt. Und das, obwohl wir es besser wissen müssten.

Denn der öffentliche Diskurs folgt einer Blaupause. Vor 130 Jahren waren es die Juden, denen man in Deutschland verweigerte Integration und Parallelgesellschaften unterstellte. Damals ging es um die Unvereinbarkeit des jüdischen Rechts mit den Werten der deutschen Mehrheitsgesellschaft, ganz so, wie wir es heute über "die Scharia" lesen. Tatsächlich wurde aus dem "christlichen Abendland" erst nach dem Holocaust das "jüdisch-christliche Abendland". Der Ausdruck soll folglich das schlechte Gewissen der Deutschen beruhigen, die Geschichte bereinigen und als Kampfbegriff alles Islamische ausschließen.

Islam als "verdrängtes Erbe der Europäer"

Höchste Zeit für zwei Feststellungen: Erstens ist der Islam keine Anti-These zum Westen und zweitens ist er nicht immer und überall an allem Schuld. Er basiert auf den gleichen historischen Wurzeln und ist deshalb Teil unserer europäischen Identität. Vom 9. bis zum 13. Jahrhundert prägten Gelehrte der islamischen Welt die Wissenschaften, die das geistige Erbe der alten Griechen sicherten, übersetzten und weiterentwickelten, während Mitteleuropa in kirchlich verordneter Ignoranz versank. Ohne Ibn Sina, al-Biruni, al-Kindi, Ibn Rushd und andere keine wissenschaftliche Wiedergeburt Europas. Historiker sprechen deshalb vom Islam als dem "verdrängten Erbe der Europäer" neben dem griechisch-antiken, dem jüdischen und dem christlichen.

Neofaschisten der "Identitären Bewegung" demonstrieren in Berlin; Foto: Imago
Rechtsextreme und Neofaschisten auf dem Vormarsch: "Der Versuch rechtsnationaler Kräfte, Deutschland zu einer homogenen Abstammungsnation zu verklären und eine deutsche Identität kollektiv zu verordnen, führt direkt in die Vergangenheit", warnt Helberg in ihrem Essay.

Daneben scheint manch Retter des Abendlandes zu vergessen, woher "unser" Christentum kommt. Jesus wurde nicht in der Nähe von Rom geboren, sondern in Bethlehem, zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Und Paulus, der die christliche Lehre ab 46 n.Chr. nach Europa brachte, stammte aus dem heutigen türkisch-syrischen Grenzgebiet, wurde in Jerusalem zum Thoralehrer ausgebildet und bekehrte sich in Damaskus vom Christenverfolger Saulus zum Apostel Paulus. Europa hat "sein" Christentum also einem Migranten aus dem Nahen Osten zu verdanken, dessen Wege an die heutigen Fluchtrouten der Syrer erinnern.

Eine unsachliche und unfaire Debatte

Zweitens neigen wir dazu, den Islam zu überschätzen, indem wir ihn alleine für das Verhalten von Muslimen verantwortlich machen. IS-Anhänger sprengen sich in die Luft, betrunkene Nordafrikaner begrapschen Frauen, arabische Clans terrorisieren Teile Berlins – der Islam ist gewalttätig, frauenfeindlich, nicht integrierbar.

Drehen wir den Spieß einmal um. In Europa schlagen betrunkene Ehemänner ihre Frauen, werden Neugeborene in Müllcontainern gefunden, vergehen sich Väter an den eigenen Kindern, Priester an Internatsschülern und Frauen dürfen keine Kirchenämter bekleiden, sondern sollen sich lieber halbnackt auf schnellen Autos räkeln – das Christentum ist unmoralisch, verroht, frauenfeindlich und macht pädophil. Wem die Beispiele übertrieben, unsachlich und unfair erscheinen, versteht vielleicht, wie Muslime den öffentlichen Islam-Diskurs seit Jahren empfinden: als übertrieben, unsachlich und unfair.

Leider sehen wir beim Blick auf den anderen das Wichtigste gar nicht mehr: die Normalität. Das ganz normale Leben von Millionen Menschen, das sich überall auf der Welt darum dreht, gesund und zufrieden zu sein, in Freiheit und ohne Angst zu leben, Familie, Freunde und eine gesicherte Existenz zu haben. Auch Muslime tun Dinge, weil sie arm oder reich, gebildet oder ungebildet, mächtig oder unterdrückt sind, auf dem Land leben oder in der Stadt, weil ihre Eltern Akademiker, Arbeiter oder Bauern sind. Jedenfalls nicht einfach nur, weil sie Muslime sind. Gleiches gilt für andere Länder und Gesellschaften.

Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Kristin Helberg; Foto: DW
Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Kristin Helberg berichtete von 2001 bis 2008 als einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin aus Syrien über die arabische und islamische Welt. Vor Kurzem erschien ihr Buch "Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns" im Herder-Verlag.

Wer verstehen will, warum in Teilen der islamischen Welt Diktatoren und autoritäre Regime herrschen, Frauen nicht gleichberechtigt sind, Kriege und Konflikte ausbrechen, Korruption und Bereicherung wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand verhindern, viele auch gut ausgebildete junge Leute arbeitslos sind und so wenige Bücher verlegt werden, sollte sozio-ökonomische Entwicklungen, koloniale Grenzziehungen, westliche Interessenpolitik, gesellschaftliche Zusammenhänge und kulturelle Verhaltensmuster ebenso bedenken wie Religion.

Differenzierter Umgang mit dem Islam

Wir sollten deshalb lernen, im Umgang mit dem Islam zu differenzieren, damit wir uns auf das besinnen können, was Europa in den letzten 60 Jahren groß gemacht hat: unsere freiheitlichen Verfassungen, nach denen alle Menschen gleichberechtigt sind – egal woher sie kommen und woran sie glauben. Niemand darf wegen seiner Herkunft oder Religion bevorzugt oder benachteiligt werden. Wer Christen oder Geflüchtete aus "unserem Kulturkreis" bevorzugt aufnehmen will, verlässt den Boden des Grundgesetzes genauso wie jemand, der Moscheen oder Kopftücher generell verbieten will.

Der Versuch rechtsnationaler Kräfte, Deutschland zu einer homogenen Abstammungsnation zu verklären und eine deutsche Identität kollektiv zu verordnen, führt direkt in die Vergangenheit. Die deutsche Gesellschaft verändert sich und jedes ihrer Mitglieder hat das Recht, sie mitzugestalten. Erst wenn in Deutschland jeder alles werden kann – eine Kopftuchträgerin Ministerin und ein Ahmad Verfassungsrichter – haben wir uns vom verkorksten Einwanderungsland zu einer erfolgreichen Integrationsgesellschaft entwickelt.

Kristin Helberg

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