Israel in der Wagenburg
Israel verliert derzeit seine letzten verbliebenen Freunde und Verbündeten. Immer mehr wird der jüdische Staat zu einem Land, dem niemand mehr nahe kommen will. Dabei ist der Angriff auf die internationale Flotte, die versuchte, die Blockade gegen den Gazastreifen zu durchbrechen, nur der vorläufige Höhepunkt einer Politik, die von der Welt bisher zwar geduldet aber immer weniger verstanden werden.
Nun regt sich immer mehr das Unbehagen. Kritik aus den Bevölkerungen gab es schon längst, nun beginnen auch die europäischen Regierungen, die bisher als treue Freunde galten, von Israel abzurücken.
Bisher hatten sie es hingenommen, dass Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten tut, was es will, dass es Ostjerusalem besiedelt, den Palästinensern in der Stadt aber nicht erlaubt, Häuser und Wohnungen für ihren wachsenden Bedarf zu bauen. Man hatte sich daran gewöhnt, dass Israel 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen unter unmenschlichen Bedingungen eingekerkert hat, dass es rund 700 minderjährige Palästinenser in Gefängnisse gesteckt hat.
Das hatte weder die Türkei davon abgehalten, mit Israel Waffenbrüderschaft zu schließen, noch die OECD, Jerusalem in ihre Reihen aufzunehmen. Das hatte die Europäer nicht gehindert, israelische Fußballer bei der Europameisterschaft mitspielen und israelische Sänger beim Grand Prix Eurovision mitträllern zu lassen.
Unbegreifliche Geduld
Mit unverständlicher Geduld hat man in den europäischen Hauptstädten jede israelische Provokation hingenommen, mit unbegreiflichem Verständnis hat man das Vorgehen in den besetzten Gebieten akzeptiert.
Unvergessen sind die Bilder der europäischen Staats- und Regierungschefs – unter ihnen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am Tag nach dem Ende der tödlichen Invasion im Gazastreifen im Januar 2009 dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert ihre Aufwartung machten und kein Wort des Mitleids für die Opfer in Gaza fanden.
Selbst diese Militäroperation, die 1.400 Menschen im belagerten Gazastreifen das Leben gekostet hatte, stieß nur in den Bevölkerungen Europas auf Proteste, die Regierungen begnügten sich mit milden Zurechtweisungen – wenn überhaupt.
Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden. Der Angriff auf die Schiffe, die in internationalen Gewässern unterwegs waren, sorgte bei den Regierungen zumindest für besorgte Gesichter und mahnende Worte an die Adresse Jerusalems, manche Regierungen wagten sogar das bisher fast Undenkbare und bestellten den israelischen Botschafter ein.
In Israel reagiert man auf diese Kritik wie immer: beleidigt, verständnislos und aggressiv. Politiker und Bevölkerung scheinen sich in eine Wagenburg zurückgezogen zu haben, von der aus sie die Welt betrachten, die ihnen anscheinend so übel gesonnen ist.
Das ganze Spektrum der israelischen Gefühle der "splendid isolation" ließ sich am Tag des Angriffs auf die Gaza-Flotte in den israelischen Medien verfolgen. Am frühen Morgen, als die ersten Nachrichten von dem Vorfall eintrafen, herrschte Schock und Entsetzen vor. "Was haben wir nur getan?" fragten sich die Journalisten in den Morgensendungen des israelischen Radios erschrocken. "Wie konnte das passieren? Und wie wird die Welt darauf reagieren?"
"Wir haben uns nur gewehrt!"
Doch nur wenige Stunden später hatten sich Moderatoren und Studiogäste wieder gefangen und neues Selbstbewusstsein getankt. "Was? Wir sollen uns entschuldigen?" fragte ein Kommentator empört. "Wieso das denn? Wir haben uns schließlich nur gewehrt!" Kein Wort der Selbstkritik, kein auch noch so kleiner Zweifel am Vorgehen der israelischen Armee war zu hören.
Am Abend dann wich die Selbstgerechtigkeit dem Opferkomplex. Im israelischen Fernsehen wurden nämlich nun die Bilder gezeigt, die die israelische Armee beim Entern des Schiffes aufgenommen hatte. Sie zeigten dunkle Gestalten an Bord des Schiffes, die offensichtlich mit Stangen auf die enternden Soldaten einschlugen.
"Sie wollten uns lynchen", klagten die Kommando-Soldaten, die mit unkenntlich gemachten Gesichtern aber deutlich sichtbaren Verletzungen gefilmt wurden. Schnell machte die Erinnerung an den Lynchmord von Ramallah die Runde. Im Jahr 2000, kurz nach Ausbruch der Intifada, wurden in Ramallah zwei israelische Soldaten, die sich angeblich in die palästinensische Stadt verirrt hatten, von einem aufgebrachten Mob in einer Polizeistation erschlagen.
Ähnliches habe nun wieder gedroht, hieß es unisono. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es zum Lachen: Zwischen neun und neunzehn Toten und mehr als vierzig Verletzte auf Seiten der Protestierer hat die Militäraktion gebracht, aber die israelische Armeeführung sieht sich als das wahre Opfer an.
Nach zehn Jahren, in denen die israelische Armee in den palästinensischen Gebieten vor allem gegen die palästinensische Zivilbevölkerung und schlecht bewaffnete Kämpfer vorgeht, sind es die Soldaten offenbar gewöhnt, dass man sich ihnen sofort ergibt. Widerstand wird nicht geduldet, und sei er auch noch so gering und schwach.
Es wird in der israelischen Gesellschaft als illegitim angesehen, wenn man sich gegen die israelische Armee zur Wehr setzt. Nur Israel hat in dieser Region das Recht, sich zu wehren.
Langsam gerät Israel mit dieser Haltung jedoch in eine gefährliche Isolation. Aus der "splendid isolation" könnte eine Wagenburgmentalität werden, die es den Israelis nicht mehr erlaubt, die Zukunft ihres Landes als demokratischer, aufgeschlossener und geachteter Staat zu gestalten.
Bettina Marx
© Qantara.de 2010
Dr. Bettina Marx war langjährige Nahost-Hörfunkkorrespondentin der ARD. Zuletzt erschien ihr Buch "Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung" im Verlag Zweitausendeins. Derzeit arbeitet sie in Berlin als Hauptstadtkorrespondentin der Deutschen Welle.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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