Kein Licht am Ende des Tunnels
Der türkische Ministerpräsident betonte in den vergangenen Tagen wiederholt, dass gegen die Regierung ein Komplott geschmiedet worden sei. Erst vor wenigen Tagen noch sagte er in sehr aggressiver Weise, wir werden ihnen die Hände brechen.
Die Öffentlichkeit in der Türkei ist in der Tat überzeugt, dass es sich bei der Einleitung des Korruptionsskandals um eine Vorgehen der Fethullah Gülen Gemeinde gegen die Regierung Erdogans handle. Die Gülen Gemeinde habe quasi einen Staat im Staat gebildet, sich insbesondere in der Justiz und Polizei ausgebreitet.
Nicht zuletzt wurde in den letzten Jahren immer wieder diskutiert, dass die Polizei und Justiz sich in die Hände spielen, zahlreiche Verhaftungen der jüngeren Vergangenheit - wie die gegen Nedim Sener und Ahmet Sik - auf das Konto der Gülen Gemeinde gehen würde. Wir waren in der Vergangenheit Zeuge und Zuschauer von Strafverfahren, die man dem Konto der Gülen Gemeinde zuschrieb, in denen der Rechtsstaat verletzt wurde. Mit teilweise abenteuerlichen Anklageschriften, absurden "Beweismitteln", Mitschriften von abgehörten Telefonaten und vielem mehr wurden Schriftsteller, politische Aktivisten und Intellektuelle für Monate in U-Haft gesteckt, sowie Verfahren wegen Terrorismus eingeleitet.
Dubiose Verfahren gegen unbequeme Denker
Die Regierung unter Erdogan ließ diese Verfahren gewähren, betonte die Unabhängigkeit der Jusitz. So kam es, dass viele wie Ahmet Sik und Nedim Sener für Monate in Haft waren, dass gegen sie Strafverfahren eingeleitet wurden. Diese Verfahren wurden als geheim eingestuft, so dass die Verteidigung erst Monate nach der Inhaftierung den Grund der Anklage und Verhaftung erfuhr. Allerdings konnte man in den Medien bereits zu einem wesentlich frühreren Zeitpunkt Zitate aus der Anklageschrift lesen, einer Anklageschrift, die dem Angeklagten und dessen Rechtsanwälten noch nicht einmal vorlagen.
Immer mal wieder sickerte durch, dass Erdogan nicht immer "glücklich" über die lange U-Haft sei. Dennoch schritt man z.B. im Fall von Sener und Sik erst ein, als der politische Druck und Schaden zu groß schien. In zahlreichen Fällen hingegen, in denen ein solcher politischer Druck nicht aufgebaut wurde, ließ man die Journalisten und Politiker in Haft.
Bei zahlreichen Bauvorhaben, seien es Staudammprojekte, Kernkraftwerke oder städtische Modernisierungsprojekte wie in Istanbul wurden immer wieder Gerichtsbeschlüsse, die einen Baustopp verordnet hatten, ignoriert oder von höherer Instanz zurückgeholt. Man baute weiter. Die Opposition gegen derartige Vorhaben wurde - wenn diese zu laut wurde - als Terroristen gebrandmarkt und mit endlosen Strafverfahren zur Strecke gebracht. Teilweise fassungslos wurde die Öffentlichkeit Zuschauer, wie rechtsstaatliche Prinzipien verletzt wurden. Immer wieder kursierten Gerüchte, die Baulöwen seien Familienmitglieder der AKP-Regierungsmannschaft, darunter auch von Erdogan.
Die Korruptionsvorwürfe überraschen in der Türkei daher niemanden. Ebensowenig überrascht die Aussage von Erdogan, dass es einen "Parallelstaat" - wie der Staat im Staate hier genannt wird - existiere.
Undankbare Gülenisten
In der Auseinandersetzung um die Schließung der Nachhilfeinstitute und Privatschulen betonte die Erdogan-Gruppe immer wieder, dass die Gülen-Gemeinde undankbar sei. Man habe sie in bestimmte Positionen geholt, ihre Wünsche erfüllt. Sie solle sich nicht beschweren. Die Erdogan-Leute haben damit während des Konfliktes um die Privatschulen öffentlich erklärt, dass sie die Herausbildung dieses Staates im Staate lange Zeit gefördert und unterstützt haben.
Warum ist es zum Bruch zwischen diesen beiden Flügeln gekommen, die sich politisch in den meisten Bereichen nahestehen und die gegenseitig von ihrem Agieren profitierten? Einige verweisen auf die Verhandlungen in der Kurdenfrage und erinnern an den Versuch im Februar 2012, den Geheimdienstchef Hakan Fidan vor Gericht zu ziehen. Er war der Chefunterhändler in den Gesprächen mit der PKK und ein enger Vertrauter Erdogans. Die Anklage gegen Fidan wurde nur dadurch vereitelt, dass Erdogan eine Lex Fidan schuf und fortan gegen dem Ministerpräsidenten Nahestehende nur mit Zustimmung des Premiers vorgegangen werden konnte.
Das erklärt auch die Aufregung der AKP-Regierung heute: wie konnte gegen Regierungsmitglieder oder deren Familienangehörige ermittelt werden ohne Kenntnis des Ministerpräsidenten bzw. des Innenministers (dessen Sohn selbst zu den Angeklagten gehört). Eine erneute Verordnung, welche Ermittlungen gegen Regierungsmitglieder bzw. deren Familienangehörige an die Zustimmung durch den Ministerpräsidenten knüpft, wäre die konsequente Antwort. Diese wäre politisch aber nicht durchzuhalten.
Nach Ansicht von Experten sind die Verhandlungen in der Kurdenfrage ein zentraler Punkt, in dem sich die Erdogan-Leute und Gülen-Gemeinde unterscheiden. Ein Fortschritt in der Kurdenfrage ist wiederum auch an das sogenannte KCK-Verfahren geknüpft. Die pro-kurdische BDP fordert die Freilassung ihrer gewählten Politiker, insbesondere nachdem in den vergangenen zwei Wochen gewählte CHP-Abgeordnete, die im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens verhaftet wurden, frei gelassen wurden.
Die Haftprüfung der gewählten und inhaftierten BDP-Politiker scheiterte zunächst. Die Regierung versuchte daraufhin die BDP zu beschwichtigen, es werde schon noch klappen. Das deutet an, dass die Erdogan-Leute nicht mehr ausreichend in der Lage waren, die Situation zu beherrschen. Allerdings sollte uns dies nicht zu dem Trugschluss führen, diese Gruppe sei im Prinzip gegen das KCK-Verfahren. Sie scheint nur nicht mehr in der Lage, die Karten auszuspielen, wenn dies für günstig gehalten wird.
Mit der Ankündigung von Erdogan, die Privatschulen und Nachhilfeinstitute schließen zu wollen, ging sie direkt gegen die Gülen-Leute vor. Denn diese rekrutiert Anhänger in diesen Schulen und profitiert wirtschaftlich von diesem gigantischen Netz an Bildungseinrichtungen, dazu gehörenden Verlagen und dem daraus erwachsenen Netzwerk. Politisch hat die AKP diese Einrichtungen bisher unterstützt. Die sogenannten türkischen Olympiaden, welche von der Gülen-Gemeinde für Schüler aus derartigen Einrichtungen im Ausland in der Türkei organisiert wurden, wurden immer von Regierungsvertretern eröffnet. Sie dienten auch der auswärtigen Kulturpolitik der AKP-Regierung.
Ein Selbstbedienungsladen für AKP-nahe Kreise
Die Ankündigung von Erdogan war damit ein Warnschuss an die Gülen-Gemeinde. Vermutlich hatte Erdogan damit auch bezweckt, noch vor den Kommunalwahlen die Reihen hinter sich zu schließen und mögliche Abweichler zur Räson zu bringen. Diese Rechnung ging nicht auf. Stattdessen wurde nun dieser Korruptionsskandal losgetreten.
Niemand in der türkischen Öffentlichkeit weiß, ob die Vorwürfe haltbar sind, ob sie auf rechtsstaatlichen Ermittlungen basieren. Aber jeder traut der Regierung derartige Korruption zu. Die Tatsachen, dass die Regierung nun versucht, sich direkt in diese juristischen Verfahren einzumischen, dass Staatsanwälte abgesetzt werden, dass die Führung der Polizei ausgetauscht wird uvm., lassen nicht darauf hoffen, dass am Ende dieses Konfliktes die Demokratie siegt.
Dass das Land zu einem Selbstbedienungsladen für AKP-nahe Kreise wurde, davon gehen alle aus. Dass das Recht gebogen wird, wenn es politisch opportun scheint, das wurde in den vergangenen Jahren immer wieder praktiziert. Dass die Korruption nun juristisch verfolgt wird, ist ebenso kein Verdienst einer um den Rechtsstaat besorgten Gülen-Gemeinde.
Das Vorgehen der Erdogan-Leute in diesen Tagen ist auch nicht angetan, Hoffnung zu verbreiten, dass am Ende des Tunnels eine demokratische Türkei steht. Nicht umsonst werden die Rufe nach Rücktritt Erdogans immer lauter. Das System an Begünstigungen, Vetternwirtschaft und rechtsstaatlichen Abenteuern scheint seinem Ende näher denn je. Wie lange diese Agonie allerdings noch dauern wird, ist alles andere als klar. Ebenso unklar ist, wieviele rechtsstaatliche Prinzipien in dieser Agonie noch geopfert werden.
Die Gruppe um Erdogan scheint derzeit gewillt, bis zur Kommunalwahl Ende März durchhalten zu wollen und sich als strahlender Wahlsieger präsentieren zu wollen. Immer wieder unterstreicht Erdogan, der Wille des Volkes entscheide, wer regiert.
Ulrike Dufner
© Heinrich-Böll-Stiftung 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Ulrike Dufner ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.