„Verankert die Pressefreiheit und macht sie unantastbar“

Männer in Pressewesten stehen um einen aufgebahrten Körper.
Der syrische Journalist Anas Alkharboutli wurde am 4. Dezember 2024 bei einem Luftangriff des Regimes auf den Bezirk Muriq in Hama getötet. Jetzt, nach dem Sturz Assads, fordern unabhängige Medienplattformen den Schutz und die Freiheit der Presse. (Foto: Picture Alliance / Anadolu | I. Kasim)

Der Sturz des Assad-Regimes markiert das Ende einer von Angst und Unterdrückung geprägten Ära. Doch damit auch wirklich ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes beginnt, muss die Pressefreiheit jetzt verankert werden. Unabhängige Medienplattformen stellen ihre Forderungen vor.

Diese Erklärung wurde ursprünglich am 16. Dezember 2024 von den unabhängigen syrischen Medienorganisationen Al-Jumhuriya Collective, ARTA, Enab Baladi und ROZANA in englischer und arabischer Sprache veröffentlicht.

Präambel

Mehr als fünf Jahrzehnte lang betrieb das Assad-Regime eine beispiellos brutale Kampagne zur Beseitigung der Pressefreiheit und setzte Terror als Waffe ein, um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen. Um die Stimmen derjenigen auszulöschen, die es wagten, die Wahrheit zu berichten, wurden Journalist:innen und Medienschaffende gejagt. Sie waren Folter, gewaltsamem Verschwindenlassen, Inhaftierung und Verbannung ausgesetzt, während ihre Familien schikaniert, erpresst und terrorisiert wurden.

Vor diesem Hintergrund entstand aus der syrischen Revolution 2011 ein wachsender, unabhängiger Mediensektor. Unter großen persönlichen Opfern und mit großem Mut brachen die dort aktiven Medienschaffenden die Mauer des Schweigens, die das Regime über Jahrzehnte errichtet hatte. Unabhängige Journalist:innen versuchten, einen freien Informationsfluss zu gewährleisten – trotz anhaltender Gewalt und der vielen Desinformationskampagnen, mit denen alle verleumdet wurden, die sich kritisch über das Assad-Regime und alle anderen äußerten, die ihre Macht missbrauchten.

Sie sammelten Berichte und verifizierten Fakten über friedliche Proteste, zivilgesellschaftliche Aktivitäten und Selbstverwaltungsbemühungen. Sie dokumentierten nicht nur bewaffnete Auseinandersetzungen, Gräueltaten und Kriegsverbrechen, sondern gaben den sich rasch entwickelnden Ereignissen einen Kontext und machten die gesammelten Beweise und Quellen öffentlich zugänglich. Sie bemühten sich, die Täter:innen für ihre Worte und Taten zur Rechenschaft zu ziehen und gleichzeitig bisher ungehörten Stimmen Gehör zu verschaffen. Sie taten dies, um die Bandbreite menschlicher Erfahrungen in all ihrer erschütternden Trostlosigkeit und tiefgreifenden Schönheit einzufangen – und wurden so zu Chronist:innen des Schmerzes und der Widerstandskraft einer Nation.

Für alle, die es wagten, der Wahrheit nachzugehen und sie zu verbreiten, war ihre Arbeit mit einem unvorstellbaren Preis verbunden. Seit Beginn der Revolution haben der syrische Journalistenverband, das Syrische Zentrum für Medien und Meinungsfreiheit und andere tausende von Übergriffen gegen Journalist:innen, Medienschaffende und Medienorganisationen durch staatliche Militär- und Sicherheitsorgane dokumentiert. 

Reporter ohne Grenzen hat den Tod von 283 Journalist:innen dokumentiert, die im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet wurden, 161 davon durch das Assad-Regime und Dutzende weitere durch andere Kräfte, die die Wahrheit unterdrücken wollten. Unzählige Reporter:innen wurden verstümmelt, ins Exil geschickt oder zum Schweigen gebracht, und ganze Familien wurden durch die unerbittliche Verfolgung zerrüttet. Unbeeindruckt von diesen verheerenden Verlusten sind die unabhängigen syrischen Medien fest entschlossen, die Wahrheit aufzudecken und alle Parteien zur Rechenschaft zu ziehen, die sich dieser Mission entgegenstellen.

Im Laufe der letzten 13 Jahre hat sich der Sektor weiterentwickelt. Laienreporter:innen wurden in den notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen weitergebildet, sodass sie zu professionellen Journalist:innen wurden. Auf dieser Grundlage werden diese Journalist:innen und Medienschaffenden auch in Zukunft dafür sorgen, dass die Wahrheit nie wieder unterdrückt werden kann und dass kein Regime die Berichterstattung über dieses Land dominiert. Die unabhängigen Medien Syriens sind sowohl ein Symbol als auch ein Vermächtnis des anhaltenden Kampfes der Revolution für Würde, Gerechtigkeit und Freiheit.

 

Forderungen für die Pressefreiheit

Die unterzeichnenden unabhängigen syrischen Medienorganisationen bekräftigen ihre Überzeugung, dass eine Diktatur durch ihr Handeln und Nichthandeln als solche definiert wird und nicht nur dadurch, wer an ihrer Spitze steht. Entsprechend und gemäß unserer Überzeugung von der grundlegenden und unbestreitbaren Notwendigkeit einer freien Presse rufen wir dazu auf, diese in den entstehenden formellen und informellen Institutionen in einem Syrien nach Assad zu schützen.

Eine wirklich freie Presse braucht:

  1. Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht: Alle Täter:innen, die Verbrechen gegen Journalist:innen und Medienschaffende begangen haben, müssen vor Gericht gestellt werden, einschließlich derjenigen, die für Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Tötungen verantwortlich sind. Alle inhaftierten Journalist:innen und Medienschaffende müssen freigelassen werden, Straffreiheit für Angriffe auf Medienschaffende kann nicht toleriert werden.
     
  2. Abschaffung des Informationsministeriums und aller Formen der Medienzensur. Im Rahmen eines partizipativen Prozesses, an dem syrische Medienorganisationen, Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich mit der Meinungs- und Medienfreiheit befassen, unabhängige Journalist:innen und Medienschaffende beteiligt sind, muss unter Anleitung lokaler und internationaler Expert:innen eine unabhängige Regulierungsbehörde eingerichtet werden, um die Exekutive dauerhaft von der Medienaufsicht zu entbinden.
     
  3. Rechtlicher Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit: Die Pressefreiheit ist untrennbar mit der Meinungsfreiheit verbunden. Gesetze, die beiden zuwiderlaufen, müssen unverzüglich aufgehoben werden, darunter das Gesetz Nr. 20 aus dem Jahr 2022 („Gesetz zur Bekämpfung der Internetkriminalität“), das Gesetz Nr. 19 aus dem Jahr 2012 („Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus“) und der jüngste Gesetzesentwurf für die Medien aus dem Jahr 2024, die alle zur Unterdrückung abweichender Meinungen in grober Weise Rechtsgrundsätze manipulieren. Es muss eine moderne Gesetzgebung entwickelt werden, die sich an internationalen Standards und Grundsätzen des Völkerrechts orientiert und eine umfassende Regelung und den Schutz von Rechten und Freiheiten gewährleistet, die ein sicheres Umfeld für Medienarbeit fördern.

    An die Stelle bisheriger Gesetze muss ein Rechtsrahmen treten, der einen zentralen Grundsatz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte umsetzt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert zu vertreten und bei Medien aller Art, ungeachtet von Grenzen, nach Informationen und Ideen zu suchen, sie zu empfangen und zu verbreiten.“

    Journalist:innen müssen frei sein, die Wahrheit zu ermitteln und zu veröffentlichen. Sie müssen dabei frei sein von Angst vor Verfolgung, staatlichem und nichtstaatlichem Zwang, Zensur und unzulässiger Einflussnahme. Es müssen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, um dem Staat zu verbieten, Journalist:innen zur Offenlegung ihrer Quellen zu zwingen. Es muss sichergestellt werden, dass Medienschaffende die Regierung zur Rechenschaft ziehen können, und zwar so, dass weder sie selbst noch denjenigen, die sie dabei unterstützen, Schaden nehmen.
     

  4. Verfassungsrechtliche Garantien: Unmissverständliche und unwiderrufliche Aufnahme der nach den internationalen Menschenrechtsabkommen garantierten Medienrechte und -freiheiten in den Verfassungstext, einschließlich ausdrücklicher Verweise auf die einschlägigen internationalen Konventionen.
     
  5. Eine freie und pluralistische Medienlandschaft: Der Staat darf kein Monopol auf den Informationsaustausch haben, sondern muss alle notwendigen Schritte unternehmen, um Medienorganisationen und -schaffenden einen gleichberechtigten Zugang zu ermöglichen, damit die für ihr Funktionieren erforderlichen Voraussetzungen erfüllt werden.

 

Dringende Prioritäten in der Übergangsphase

  • Verbot der Zensur: Es ist strengstens verboten, Medien zu zensieren, sie zu beschlagnahmen, zu suspendieren oder zu schließen. Ausnahmen sind nur in eng umrissenen und zeitlich begrenzten Fällen zulässig, die mit den Einschränkungen gemäß dem Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte übereinstimmen.
  • Rechtsschutz für Meinungen und Berichte: Die Meinungen oder die sachliche Berichterstattung eines Journalist:innen oder Medienschaffenden dürfen niemals als Grundlage für rechtliche Schritte dienen. Journalist:innen dürfen nicht gezwungen werden, ihre Quellen offenzulegen.
  • Wahrung der Rechte von Journalist:innen: Medienschaffende müssen vor Verletzungen ihrer Würde, ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihres moralischen Ansehens aufgrund ihrer veröffentlichten Arbeit geschützt werden. Sie dürfen nicht strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie im Rahmen ihrer beruflichen Pflichten Meinungen äußern oder Informationen verbreiten. 
  • Freiheitsberaubung: Für Straftaten im Zusammenhang mit Veröffentlichungen dürfen keine Freiheitsstrafen verhängt werden, es sei denn, es handelt sich um Aufstachelung zu Gewalt oder Hass. Auch in diesem Fall ist eine Freiheitsstrafe nur nur nach einem ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren und unter Einhaltung des Rechtswegs denkbar. 
  • Schutz journalistischen Materials: Dokumente, Daten und andere Materialien, die sich im Besitz von Journalist:innen befinden, dürfen in strafrechtlichen Ermittlungen nicht als Beweismittel gegen sie verwendet werden, es sei denn, ihr Besitz oder Erwerb stellt eine Straftat dar. 
  • Schutz vor unrechtmäßigen Durchsuchungen: Journalist:innen dürfen wegen ihrer beruflichen Tätigkeit nicht durchsucht, festgehalten oder verhört werden, es sei denn, es handelt sich um eine schwere Straftat. Darüber hinaus müssen ihre Arbeitsmittel – wie Laptops, Kameras und Dokumentation – vor Beschlagnahmung geschützt bleiben.
  • Recht auf Informationen der öffentlichen Hand: Journalist:innen müssen garantierten Zugang zu Informationen der öffentlichen Hand haben, unabhängig davon, ob es sich um Gesetzgebung, Rechtsprechung, Regierung oder Verwaltung handelt, und sie müssen die Freiheit haben, diese Informationen ohne Einschränkungen zu veröffentlichen.
  • Gleichberechtigter Zugang zu Informationen: Der Zugang zu und die Verbreitung von Informationen darf nicht durch Barrieren behindert werden. Die Chancengleichheit muss für alle Medienformen, einschließlich der Print-, elektronischen, visuellen und Audio-Medien, gewährleistet sein. 
  • Institutionelle Förderung: Regierungsstellen und öffentliche Einrichtungen müssen Mechanismen einrichten, die Journalist:innen den Zugang zu Informationen erleichtern, z. B. spezielle Büros oder Webseiten. 
  • Schutz der Quellen: Die Quellen und Mitarbeiter:innen von Medienschaffenden müssen geschützt werden. Die Vertraulichkeit darf nur mit zwingender richterlicher Genehmigung verletzt werden, und zwar ausschließlich in Fällen von Straftaten, die eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen, und nur dann, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, die Informationen zu erhalten. 
  • Uneingeschränkte Publikation und Integrität der Lizenzierung: Das Publizieren muss frei sein und darf nicht von einer vorherigen Lizenzierung abhängig gemacht werden. Lizenzierungs- und Akkreditierungsverfahren müssen von einer unabhängigen Aufsichtsbehörde verwaltet werden, die ausschließlich dem Zweck dient, die Integrität des Berufsstandes und die Sicherheit der in ihm tätigen Personen zu gewährleisten. Die Lizenzvergabe darf nicht als bürokratisches Schlupfloch zur Einschränkung der Pressefreiheit missbraucht werden. 
  • Abschaffung der Sprachbeschränkungen: Unverzügliche Aufhebung und Abschaffung aller Sprachbeschränkungen in den Medienvorschriften, die vom Assad-Regime zur Einschränkung der kulturellen Rechte der verschiedenen Ethnien Syriens eingesetzt wurden. Diese Einschränkungen behinderten die Arbeit von Medien und unabhängigen Journalist:innen, die auf Kurdisch, Syrisch, Armenisch und anderen Sprachen arbeiten. Die Beseitigung solcher Hindernisse ist eine wesentliche Voraussetzung für die Förderung eines integrativen und würdigen Medienumfelds. 
  • Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit für Journalistinnen: Gewährleistung der Freiheit und Sicherheit von Journalistinnen, sodass sie ihre beruflichen Pflichten ohne Angst vor Belästigung, Diskriminierung oder Gewalt ausüben können. Schaffung solider rechtlicher und institutioneller Mechanismen, um gegen geschlechtsspezifische Bedrohungen vorzugehen und gleiche Chancen für den beruflichen Aufstieg im Mediensektor zu bieten. 
  • Aufhebung der Finanzierungsbeschränkungen: Aufhebung der Restriktionen in Bezug auf ausländische und nationale Finanzierungsquellen, damit Medienorganisationen Zuschüsse und Spenden erhalten und Werbeeinnahmen erzielen können, die für den Wiederaufbau eines lebensfähigen Mediensektors entscheidend sind.

     

Résumé

Der Sturz des Assad-Regimes soll nicht nur das Ende einer von Angst und Unterdrückung geprägten Ära markieren, sondern auch den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte des Landes darstellen. Dieses Kapitel muss in Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechten und Demokratie verwurzelt sein. Die Pressefreiheit ist nicht nur ein Eckpfeiler der demokratischen Gesellschaft. Sie ist vielmehr ihr schlagendes Herz, eine Lebensader für Wahrheit, Rechenschaftspflicht und das kollektive Gedächtnis einer Nation. Ohne sie gerät die Demokratie ins Wanken, und Tyrannei findet einen fruchtbaren Boden.

Wir, die Unterzeichner:innen, rufen alle faktischen und künftigen Behörden Syriens auf, diesem historischen Anlass gerecht zu werden. Möge dies der Moment sein, in dem die Pressefreiheit als unantastbar festgeschrieben wird, in dem die Rechte der Journalist:innen mit Nachdruck geschützt werden und in dem die Wahrheit vor Stillschweigen bewahrt wird. Möge dieser Zeitpunkt in die Geschichte eingehen, und zwar nicht als flüchtige Gnadenfrist, sondern als Geburtsstunde eines freien und demokratischen Syriens.

 

Unterzeichnet von:
Al-Jumhuriya Collective, الجمهورية.نت
ARTA for Media and Development
Enab Baladi
ROZANA, Radio Rozana

 

Übersetzung aus dem Englischen von Clara Taxis.