Eine verwaiste Revolution
Die Bilder vom Zusammenbruch des einst befreiten Aleppo wurden von Medienaktivisten in Echtzeit verbreitet, worauf Tausende weltweit auf die Straßen gingen, um gegen die damit verbundene humanitäre Katastrophe zu demonstrieren. Diese Solidarität ist wichtig. Sie kommt aber sechs Jahre zu spät, wie diverse Beobachter bitter beklagen. Die letzten Reste von Basisdemokratie und kreativem Widerstand werden derzeit zwischen den Fronten zerrieben. Der Syrienkonflikt tritt damit in eine noch dunklere und beängstigendere Phase ein.
Ohne russische Unterstützung wäre ein Sieg der Assad-Anhänger in Aleppo undenkbar gewesen. Noch im September 2015, als Putin auf Assads Bitte hin intervenierte, stand das Regime kurz vor dem Kollaps. Es war nicht das erste Mal, dass Assad gerettet wurde. Bereits 2013 griff der Iran in den Bürgerkrieg ein. Nach dem gleichen Muster wie in Aleppo werden Dissidenten auch in anderen Regionen ausgeschaltet.
Am Boden werden die Aufständischen von fremden Söldnertruppen und schiitischen Milizen mit Rückendeckung aus dem Iran ausgehungert, während aus den Flugzeugen der Koalition zwischen Assad und Russland ein Bombenhagel niedergeht. Erzwungene Kapitulationsabkommen drängen die Menschen aus ihren angestammten Siedlungsräumen. Möglicherweise für immer.
Der IS war nur ein Vorwand
Russland intervenierte zunächst unter dem Vorwand, den IS bekämpfen zu wollen. Allerdings gingen mehr als 80 Prozent der russischen Bomben auf Gebiete nieder, die nicht von der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ kontrolliert werden. Stattdessen treffen sie Gemeinschaften, die sich selbst demokratisch organisieren. Sie treffen Schulen und Krankenhäuser, in denen Ärzte und Lehrer mühsam gegen den Zerfall der Strukturen kämpfen. Sie gehen auf freiwillige Helfer nieder, die verletzte und traumatisierte Kinder aus den Trümmern ziehen und dabei ihr eigenes Leben riskieren.
In den 305 Tagen seit Beginn der Intervention wurden 2.704 Zivilisten bei russischen Luftangriffen getötet, darunter 746 Kinder. Syrische und internationale Menschenrechtsverbände und humanitäre Organisationen klagen die systematische und vorsätzliche Bombardierung von Krankenhäusern als Kriegsstrategie der Russen an. Moskaus Intervention sollte das Assad-Regime vor dem Zusammenbruch bewahren und dabei helfen, verlorene Gebiete zurückzuerobern. Dieser Plan ist aufgegangen.
Die historische Beziehung zwischen Russland und dem Assad-Regime lässt sich bis in den Kalten Krieg zurückverfolgen. Die Sowjetunion verkaufte Waffen an die syrische Diktatur. Im Gegenzug konnten Syrer in Russland und in anderen Ostblockstaaten studieren. In der syrischen Küstenstadt Tartus gründeten die Sowjets ihren bislang einzigen Marinestützpunkt im Mittelmeer. Dieser ehemalige Aktivposten der Russen wurde von Putin wiederbelebt. Russische Bomben halten Assad an der Macht. Russland hält im Sicherheitsrat die Hand über seinen Klientelstaat. So wie es die USA mit Israel tun.
Herausforderung der US-Hegemonie
Durch die Intervention in Syrien konnte Russland seinen Marinestützpunkt in Tartus ausbauen und zu einer festen Einrichtung machen. Südlich der Hafenstadt Latakia entstand 2015 zudem eine Luftwaffenbasis. Die Abkommen mit Assad erschließen Russland den Zugang zu lukrativen Gas- und Ölförderverträgen. Gleichzeitig gewinnt Russland eine Bühne als Hersteller hochmoderner Waffen und kann so seine Waffenexporte steigern. Vor allem aber hat Russland im Syrienkonflikt die Hegemonie der USA in der Region erfolgreich herausgefordert.
Nachdem US-Präsident Obama mit Abschluss der Chemiewaffen-Vereinbarung den Rückzug aus dem Konflikt einleitete, werden die internationalen Verhandlungen über Syrien heute von Russland geführt. Derweil intensiviert Putin die Beziehungen zu anderen regionalen Autokraten, beispielsweise zum türkischen Präsidenten Erdoğan oder zum ägyptischen Präsidenten Sisi. Diese Beziehungen werden in jüngster Zeit durch gemeinsame militärische Manöver vertieft. Auch mit Israel arbeitet Putin wirtschaftlich enger zusammen. Israel belieferte Russland mit Drohnen und tauscht militärische Informationen über die Lage in Syrien aus.
Durch das Dauerbombardement aus der Luft macht Russland Tausende Menschen zu Flüchtlingen. Gleichzeitig treibt Russland mit Unterstützung rechtspopulistischer Parteien die Destabilisierung Europas voran – einer Region, die bereits heute unter dem gescheiterten wirtschaftlichen Neoliberalismus und der Austeritätspolitik leidet. Durch Propagandamedien wie Russia Today (RT) werden Desinformationskampagnen lanciert.
Imperialismus auf Einladung
Einige behaupten, Russlands Intervention könne nicht imperialistisch sein, da Russlands Militär auf Einladung des syrischen Regimes eingegriffen habe. Derselben Argumentation zufolge wäre die US-Intervention in Vietnam ebenfalls nicht imperialistisch gewesen, da sie auf Einladung der Regierung Südvietnams erfolgte. Wer dieser Sichtweise Glauben schenkt, hält nichts von der Souveränität der Völker, sondern von der der Regierungen. Demnach handeln Regierungen legitim, wenn sie diejenigen vernichten, die ihre Herrschaft friedlich herausfordern.
Einer anderen Argumentation zufolge werden auch die Aufständischen durch Formen des regionalen und internationalen Imperialismus unterstützt, und zwar mit Rückendeckung der USA, der Türkei und der Golfstaaten. Doch die Aufständischen erhielten nicht annähernd die finanzielle und militärische Hilfe, die das Assad-Regime von seinen Verbündeten erhält. Die entschiedenste Intervention, zu der sich Obama durchringen konnte, bestand darin, ein Veto gegen die Lieferung von Luftabwehrraketen an die Aufständischen einzulegen. Die damit verbundene Unfähigkeit der Aufständischen, auf die Luftüberlegenheit Assads zu reagieren, ließ das Pendel zugunsten des Regimes ausschlagen. Alle Alternativen zu dessen Herrschaft wurden damit nichtig.
Mit der Aufgabe von Aleppo ist auch klar, dass es der Türkei vor allem darum geht, eine Autonomie der Kurden im Norden Syriens zu verhindern – parallel zum autoritären Vorgehen Erdoğans gegen Oppositionelle im eigenen Land.
Bleiben noch die reaktionären Golfstaaten, jeder von ihnen mit einer eigenen Agenda. Sie unterstützen die ihnen nahestehenden Gruppen und schüren somit Uneinigkeit und Grabenkämpfe unter den Aufständischen. Mit dem Ziel, vor allem eine regionale Vorherrschaft des Iran zu verhindern, fachen die Golfstaaten den religiösen Fanatismus und Extremismus weiter an, den das Assad-Regime und seine Unterstützer böswillig provozierten.
Es ist kaum anzunehmen, dass der künftige US-Präsident Trump die isolationistische Position von Obama aufgeben wird. Ebenso wie Obama wird auch er im IS die größte Bedrohung der amerikanischen Interessen sehen. Dies alles hilft den Syrern nicht, die Assad als größtes Hindernis auf dem Weg zum Frieden sehen. Assad und seine Verbündeten zeichnen für mehr als 90 Prozent der zivilen Opfer verantwortlich. Sie sind die Hauptursache für Vertreibung.
Obama und Putin kooperieren seit geraumer Zeit im sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Der kommende US-Präsident Trump gilt als Bewunderer Putins. Vermutlich wird er mit ihm und Assad zusammenarbeiten, wobei er sogar auf die sonst üblichen Lippenbekenntnisse zu Menschenrechten, Demokratie und Schutz der Zivilbevölkerung verzichtet. Ganz davon abgesehen, dass Assad und Putin gegen die Freie Syrische Armee (FSA) und gegen islamische Milizen vorgehen, die ihrerseits den IS bekämpfen und die derzeit der einzige Schutz der Zivilbevölkerung sind.
Zu viele Strippenzieher?
Es bleibt abzuwarten, ob sich neue Spannungen zwischen Iran und Russland entwickeln. Erste Anzeichen waren im Evakuierungsabkommen zwischen Russland und der Türkei sichtbar, das von radikalen iranischen Milizen unterlaufen wurde. Und während Trump möglicherweise näher an Putin heranrückt, lehnen Trumps engste Berater das mit dem Iran geschlossene Atomabkommen ab. Doch Russland weiß auch, dass Assad die rückeroberten Gebiete auf Dauer nicht ohne Unterstützung iranischer Bodentruppen halten kann. Geht die Rechnung auf, wenn mehrere Strippenzieher am Werk sind?
Der Fall von Aleppo könnte der letzte Nagel im Sarg der verwaisten syrischen Revolution sein. Ein Sieg der Assadisten bedeutet das Ende des Experiments einer demokratischen Bürgergesellschaft in Aleppo – dem einstigen Leuchtfeuer der Hoffnung. Ein solcher Sieg bedeutet die mögliche Festnahme Hunderter oder Tausender ziviler Aktivisten und medizinischer sowie humanitärer Helfer. Sie werden in den Gefängnissen auf Tausende weiterer Menschen treffen, die dort mit wenig Aussicht auf Freilassung festsitzen. Die Flüchtlinge und die Vertriebenen werden niemals in ihre Heimat zurückkehren können. Aus dem Konflikt gestärkt gehen Extremistengruppen hervor, die sich jeder öffentlichen Kontrolle entziehen. Das Reich der Angst kehrt zurück.
Das syrische Volk zahlt für seinen Wunsch nach Freiheit einen hohen Preis. Es wird von der eigenen wie von fremden Regierungen bombardiert und ist zum Kampfgebiet durchgeknallter Dschihadisten geworden. Das Regime hat niemals ernsthafte Anstrengungen zu einer Lösung am Verhandlungstisch unternommen. Assad ist nicht bereit, seine Macht abzugeben oder zu teilen. Alle ausgehandelten Waffenruhen bildeten bislang den Auftakt zu noch brutaleren Angriffen und Vertreibungswellen, auf die die internationale Gemeinschaft lediglich mit „nachdrücklicher Verurteilung“ reagierte. Assad, Russland und der Iran glauben an eine militärische Lösung des Konflikts.
Jetzt ist es an den Menschen weltweit, eine nachhaltige Antikriegsbewegung aufzubauen, die sich an die Seite des syrischen Volkes stellt – gegen alle Staaten, die sich an diesem Konflikt beteiligen und ihn schüren.
Leila Al-Shami
© Open Democracy 2017
Leila Al-Shami ist eine britisch-syrische Aktivistin, die in der Menschenrechtsbewegung in Syrien und an anderen Stellen in der Region tätig ist Sie ist (mit Robin Yassin-Kassab) Co-Autorin von Burning Country: Syrians in Revolution and War.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers