Der Koran auf Gazellenhaut
Die Geschichte der Karawanenstadt Chinguetti reicht mehr als 700 Jahre zurück. Bis heute treiben in weiße Kaftane gehüllte Männer ihre Kamelherden aus dem nächtlichen Koral hinaus in die Dünen, bevor die Sonne am Himmel steht. Im Nordosten des Wüstenstaats Mauretanien, mitten in der Sahara, gibt es zwar wie im Rest des Landes inzwischen auch Mobiltelefone und Autos, die durch den meist trocken liegenden Wadi fahren, einem Flussbett. Doch ansonsten dominieren Traditionen.
Die ersten Karawanen kamen im 12. Jahrhundert von Arabien nach Chinguetti, um Gold, Elfenbein und andere afrikanische Kostbarkeiten zu erwerben. Mit ihnen kam der Islam nach Chinguetti. Die Stadt zählt für mache zu den sieben bedeutendsten Stätten des Islam – auch, wenn sie außerhalb Mauretaniens kaum jemand kennt.
Darüber hinaus ist Chinguetti seit jeher für die Schriftgelehrten berühmt, die schon vor Hunderten von Jahren Traktate zur Auslegung des Korans und wissenschaftliche Schriften verfassten. Bis heute sind Religion und Handel die Taktgeber im Leben Chinguettis.
Vormarsch der Dünen
Auf der Marktstraße im Schatten der neuen Moschee sitzen jeden Morgen fliegende Händlerinnen und Händler vor den wenigen Läden und verkaufen, was es in der kargen Region gerade gibt: Tomaten, gelb leuchtende frische Datteln oder in kostbares Wasser getauchte Minze. "Es ist heißer geworden, immer heißer", sagt Fatimah, eine der Händlerinnen, deren Gesicht schwarz verschleiert ist. Klimaforscher führen den noch schnelleren Vormarsch der Dünen direkt auf die in Folge des Klimawandels gestiegenen Temperaturen zurück.
Während die höher gelegene Neustadt von den Dünen bislang verschont geblieben ist, sind in der Altstadt jenseits des Wadis viele Häuser bereits verschüttet. Andere sind zusammengebrochen. Kaum jemand lebt noch hier, im geschichtsträchtigsten Teil der Stadt, wo die Bibliotheken liegen.
Saif Islam ist einer der Bibliothekare, der jüngste Spross einer Familie, die seit Jahrhunderten die einzigartigen Bücher und Schriften von Glaubensgelehrten in einer Privatbibliothek aufbewahrt.
Koran auf Gazellenhaut
Mehrere solche Sammlungen in ihren historischen Gebäuden sind der Grund dafür, dass die Unesco Chinguetti zum Weltkulturerbe ernannt hat.
"Das Haus ist fast so alt wie die Schriften", erklärt der 59-jährige Islam, der mit einem Schlüssel von der Größe eines Handfegers das antike Schloss öffnet und den schweren Holzriegel zurückschiebt. Ein zweites Portal, das vom sonnendurchfluteten Innenhof abgeht, öffnet er auf ähnliche Weise. Hinter einer Tür, die nicht viel höher als einen Meter ist, verbirgt sich die Bibliothek.
Die Sammlung der Familie Achmed Machmud besteht aus 1699 Büchern, die meisten davon sind islamische Werke. Islam kennt sie alle. "Dies zum Beispiel ist das älteste Buch der Stadt, es stammt aus dem 10. Jahrhundert - der einzige Koran, der auf Gazellenhaut geschrieben wurde."
Obwohl die meisten Werke unersetzlich sind, schützt Islam sie nur in einfachen Pappschubern vor Staub und Termiten. Die Regierung im fernen Nouakchott versuchte vor wenigen Jahren, die Bücher dauerhaft zu bewahren: Sie baute eine Bibliothek, die bis heute leer steht.
Bröckelnde Gebäude vom Wüstensand erdrückt
"Die wollten uns die Bücher abnehmen und einlagern", sagt Islam empört. Doch nicht nur er, auch andere Bibliothekare leben von den Touristen, die die Bücher ansehen wollen und sich die dazugehörige Geschichte berichten lassen.
Islam, ein Unterhaltungstalent, stimmt manchmal sogar ein gesungenes arabisches Gedicht aus dem 17. Jahrhundert an, um seine Besucher bei Laune zu halten. "Dies ist eine Privatsammlung, keine öffentliche Bücherei", insistiert Islam.
Auch der Plan, die Bücher auf Mikrofilm zu bannen, liegt derzeit auf Eis. Denn mehr als einen Monat während des Fastenmonats Ramadan möchte niemand seine Sammlung hergeben. Viele Bände sind daher bis heute nicht wissenschaftlich ausgewertet worden.
Doch bange, wie lange seine Bibliothek hier noch durchhalten wird, ist Saif Islam dennoch. Er kennt den vor zwei Jahren veröffentlichten Bericht des Unesco-Komitees für das Welterbe, das deutliche Worte findet: "Antike Stätten sind für ein bestimmtes Mikroklima gebaut worden und werden durch den Klimawandel in ihrem Bestand bedroht."
Weiter heißt es dort: Gebäude bröckeln weg, weil Hitze oder starke Regenfälle den Boden auflösen, auf dem sie stehen. In Timbuktu im Norden Malis, ebenso wie Chinguetti eine Saharastadt, sind antike Gebäude von den vormarschierenden Dünen schon regelrecht erdrückt worden. Auch um Saif Islams Bibliothek liegt bereits ein Ring aus Sand.
Marc Engelhardt
© Qantara.de 2007
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