„Nichts rechtfertigt einen Genozid“

Zerstörte Häuser und Infrastruktur in Rafah, Gazastreifen (picture alliance / Anadolu | A. Alattar)
Die physische Zerstörung ist nicht alles. Der Gesundheitssektor und die Nahrungsmittelproduktion seien auch ausgelöscht, betont Barenboim (Foto: picture alliance / Anadolu | A. Alattar)

Der Geiger Michael Barenboim, Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra, fordert ein Waffenembargo gegen Israel und wirft deutschen Medien Versagen vor. Gegenüber Qantara erklärt er, wie er den Balanceakt zwischen Kunst und Aktivismus angeht.

Interview von Jannis Hagmann

Qantara: Herr Barenboim, leidet Ihre Musik eigentlich unter Ihrem politischen Engagement?  

Michael Barenboim: Sie meinen die Qualität meines Spiels?  

Sie haben selbst einmal gesagt, dass Geige spielen viel Üben voraussetzt. Seit dem 7. Oktober und dem Gazakrieg werden Sie immer aktiver, schreiben offene Briefe, geben Pressekonferenzen, moderieren Diskussionen über Israel und Palästina.  

Ich habe diese Sorge in den letzten Monaten tatsächlich immer wieder gehabt. Aber was ich neben der Musik mache, halte ich für sehr wichtig. Gleichzeitig darf es natürlich nicht heißen, der macht jetzt Politik und spielt wie ein Ei. Ich achte sehr drauf, dass ich genug Zeit habe fürs Üben und Vorbereiten. 

Michael Barenboim (Foto: Jannis Hagmann)
Michael Barenboim, geboren 1985, ist Professor für Violine und Ensemblespiel an der Barenboim-Said-Akademie in Berlin. Seit seinem 14. Lebensjahr spielt er im West-Eastern Divan Orchestra, das von seinem Vater Daniel Barenboim und dem palästinensischen Intellektuellen Edward Said gegründet wurde. Das Projekt bringt israelische, palästinensische und andere arabische Musiker*innen zusammen. (Foto: Qantara | Jannis Hagmann)

Sie haben zuletzt – zusammen mit anderen – die deutschen Medien scharf kritisiert und dazu aufgerufen, ihrer Verantwortung als vierter Gewalt gerecht zu werden. Die Medien hätten mit wenigen Ausnahmen vollkommen versagt. Ein harter Vorwurf. 

Deutschland muss aufhören, die Auslöschung von Palästinenser:innen zu unterstützen. Wenn hierzulande bei diesem Thema schon ein völliger Konsens herrscht, wenn auch im Parlament alle mehr oder weniger das Gleiche vertreten, dann ist die Rolle der Medien umso wichtiger. 

Aber das kritische Nachfragen fehlt. Israel ist vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Völkermords angeklagt. Eigentlich ist die Sache klar. Eigentlich dürften wir Israel nicht mit Waffen unterstützen. Das muss von unseren Medienvertretern viel klarer formuliert werden.  

Geht es Ihnen darum, dass deutsche Medien Begriffe wie ‚Genozid‘ oder ‚ethnische Säuberung‘ benutzen, um Israels Krieg oder auch Trumps jüngste Vertreibungsfantasien zu beschreiben?    

Das richtige Vokabular zu benutzen ist wichtig, aber nicht alles. Schon wenn ein Genozid droht, sind wir verpflichtet, alles zu tun, um ihn zu verhindern. Die Gefahr eines Genozids war schon am 9. Oktober 2023 gegeben, als Israels Verteidigungsminister von menschlichen Tieren sprach und ankündigte, Wasser, Strom, Benzin und Nahrung vollständig zurückzuhalten. Am 15. Oktober sprachen mehr als 800 Genozidexpert:innen eine Warnung aus.  

Das verpflichtete bereits alle Staaten der Genfer Konvention – inklusive Deutschland – dazu, einzuschreiten. In der Genfer Konvention geht es ja nicht nur um das Verbot, sondern auch um die Verhütung eines möglichen Genozids. 

Trump und Netanjahu reihen sich in eine über hundert Jahre alte Tradition ein, in der über dieses Land verfügt wird, ohne die lokale Bevölkerung einzubeziehen oder mitsprechen zu lassen. Das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volks steht dem entgegen.

Ein Urteil des IGH in dem Völkermordverfahren, das Sie erwähnten, wird noch lange auf sich warten lassen. Nun herrscht seit Januar eine Waffenruhe. Warum sind Sie so fest überzeugt, dass es sich in Gaza um einen Genozid gehandelt hat?   

Es gibt einen Berg an Beweismaterial, das einfach keinen anderen Schluss mehr zulässt. Amnesty International, Human Rights Watch, der UN-Sonderausschuss oder bekannte Genozidgelehrte, auch aus Israel, sind dieser Meinung. Man muss der Wahrheit ins Gesicht schauen, irgendwann ist die Grenze erreicht.  

Eine Waffenruhe – schon gar nicht eine, die Israel fast täglich bricht – bedeutet im Übrigen nicht, dass der Völkermord beendet ist. Beispielsweise sehen wir aktuell eine Kombination aus vollständiger Zerstörung der Nahrungsmittelproduktion und einem Zurückhalten von Hilfsgütern, oder auch aus vollständiger Zerstörung von Krankenhäusern und einem Zurückhalten von lebenssichernden Medikamenten. Außerdem erleben wir auch eine Expansion des Völkermords auf die West Bank, wo die Bilder aus Dschenin den Bildern aus Dschabalia im Gazastreifen ähneln. 

Ein Genozid setzt Intention voraus und meist ist es schwierig, diese zu beweisen. Aber im Fall von Gaza gibt es hunderte genozidale Aussagen israelischer Politiker:innen und Militärs. Und das ist nur die obere Ebene. 

Welche anderen Ebenen sehen Sie?  

Eine Ebene darunter sehen wir die Aktionen von Soldat:innen vor Ort im Gazastreifen, die dort ohne Restriktionen handeln. „Ich habe alle Beschränkungen aufgehoben“, hatte Verteidigungsminister Gallant ja gesagt. Und auf der Ebene ganz unten sehen wir das Resultat: einen völlig verwüsteten Gazastreifen. Gesundheitssektor und Nahrungsmittelproduktion sind ausgelöscht.  

Sie fordern auch ein vollständiges Waffenembargo gegen Israel. Haben Sie dabei keinerlei Bauchschmerzen? Dass Israels Feinde es mit ihren Vernichtungsfantasien ernst meinen, haben sie gezeigt. Vom Iran wurde das Land direkt angegriffen. Muss man dies nicht genauso ernst nehmen wie etwa Trumps und Netanjahus Gerede, die Palästinenser:innen aus Gaza vertreiben zu wollen? 

Wir haben unsere Verantwortung, der wir gerecht werden müssen. Die Staaten, die Israel mit Waffen beliefern, müssen sagen: Beendet die Besatzung! 

Spätestens am 19. Juli letzten Jahres, als der IGH in einem weiteren Verfahren die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete für rechtswidrig erklärte, hätte man die Argumente gehabt, um zu sagen: Wir liefern erst wieder Waffen, wenn die Forderungen des IGH umgesetzt sind. 

Israel muss sich zurückziehen, die Siedler:innen evakuieren und Reparationen zahlen an die Palästinenser:innen. Es heißt immer, das sei nicht möglich, aber natürlich ist es das. Es ist eine Verpflichtung. 

Lassen Sie mit Ihrer Argumentation nicht Gruppierungen wie die Hamas aus der Verantwortung? 

Die Hamas bekommt ja von Deutschland keine Waffen.  

Die Hamas hält mehr als 500 Tage nach dem 7. Oktober noch immer Geiseln in ihrer Gewalt. Sie trägt eine Mitverantwortung für das, was auf das Massaker folgte.  

Aber nichts rechtfertigt einen Genozid. Es gibt in der Genfer Konvention keinen Passus, der besagt, wenn das und das passiert, dann ist Völkermord in Ordnung. Weder juristisch noch moralisch gibt es eine Rechtfertigung. Die Verantwortung, einen Völkermord zu verhindern, gilt zu 100 Prozent. Wenn man dagegen über Ursachen reden will, muss man in der Geschichte sehr weit zurückgehen, nicht nur bis zum 7. Oktober 2023.  

Sie sind selbst immer wieder in Israel gewesen. Waren Sie auch in Gaza?  

Einmal im Jahr 2011 mit meinem Vater und einer Gruppe von Orchestermusikern.  

Unter Hamas-Herrschaft?  

Ja, es gab damals einen kurzen Moment, wo so etwas möglich war. 

Anders als Ihr Vater, der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim, haben Sie nicht die israelische Staatsbürgerschaft. Warum beschäftigen Sie sich neben der Musik so intensiv mit dem Nahostkonflikt? 

Ich spiele seit meinem 14. Lebensjahr im West-Eastern Divan Orchestra, das von meinem Vater und Edward Said gegründet wurde und in dem Musiker:innen aus dem Nahen Osten zusammenspielen. Seitdem ist das Thema Palästina/Israel für mich ein permanenter Wegbegleiter. Auch an der Barenboim-Said Akademie in Berlin haben wir täglich mit dem Thema zu tun.  

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Was haben der 7. Oktober und der Gazakrieg mit dem Orchester und der Akademie gemacht?  

Ich bin immer wieder begeistert, wie unsere Studierenden mit der Sache umgehen. Das menschliche Miteinander funktioniert. Gleichzeitig ist die Situation extrem schwierig, denn eine neutrale Position ist nicht möglich. Meiner Meinung nach gibt es mittlerweile eine klare Polarisierung zwischen denen, die das internationale Recht hochhalten, und anderen, die sich mehr und mehr diskreditieren, indem sie versuchen, das Unmögliche zu rechtfertigen. 

Sehen Sie sich in der Tradition Ihres Vaters? Auch er war immer politisch, aber dass er wie Sie auf einer Bundespressekonferenz auftritt und Deutschlands Mitschuld an einem Genozid anklagt, kann ich mir nicht vorstellen.  

Es gibt Unterschiede. Ich mache viele Projekte, die nichts mit Musik zu tun haben. Die Bundespressekonferenz ist ein Beispiel oder auch die Talk-Reihe Kilmé, bei der Tyme Khleifi und ich palästinensischen Künstler:innen und Akademiker:innen einmal pro Monat eine Bühne bieten. Mein Vater dagegen hat fast alle seine Projekte mit Musik verbunden. Als Vollblutmusiker, der seit seinem siebten Lebensjahr auf der Bühne steht, ist Musik einfach sein Medium. Das heißt aber nicht, dass seine Projekte nicht politisch sind. 

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