"Die Arbeit meines Mannes lebt in uns weiter"
Dutzende Aktenordner und Acht-Millimeterfilme stapeln sich auf einem großen Holztisch. An den Wänden hängen Großaufnahmen des zerstörten Beirut aus der Zeit des Bürgerkriegs. Ein Mitarbeiter nimmt die Filmrollen und bewegt sich Richtung Ausgang. Die Stimmung ist geschäftig im einzigen öffentlich zugänglichen Archiv über die jüngere politische Geschichte des Libanon.
Mittendrin sitzt Monika Borgmann auf einem Ledersofa. Sie schenkt Kaffee ein und zündet sich eine Zigarette an. "Wir sind wütend und die Arbeit hier ist unser Motor", erklärt sie mit Blick auf die seit Monaten andauernde Wirtschaftskrise und die immer wieder neu aufflammenden Proteste gegen korrupte und unfähige Politiker. Diese wollten es partout nicht schaffen, dem immer dramatischer verarmenden Land, das vor gar nicht langer Zeit noch als "Schweiz des Nahen Ostens" gerühmt wurde, neue Perspektiven zu eröffnen. Vielen Libanesen erscheint die Lage nur noch als hoffnungslos.
Monika Borgmann ist eine aus Deutschland stammende Filmemacherin, die schon seit Jahrzehnten im Libanon ihre Berufung und - gemeinsam mit ihrem Ehemann - auch eine Heimat gefunden hat. Doch seit kurzem ist sie Witwe. Ihr Mann, Lokman Slim, ein bekannter libanesischer Intellektueller und mutiger Kritiker der mächtigen Schiitenmiliz Hisbollah, wurde am 4. Februar diesen Jahres von Unbekannten ermordet.
Monika Borgmann scheint gefasst. Nur manchmal steigen ihr Tränen in die Augen, wenn sie über den Verlust ihres Mannes spricht. Seine Tötung sei kein Zufall oder Versehen gewesen, meint sie. "Er wurde hingerichtet, ein politischer Mord! Mit sechs Kugeln haben sie meinen Mann erschossen!"
Rückblende: In der Silvesternacht 1986 kommt Monika Borgmann das erste Mal in den Libanon. Damals studierte sie Islamwissenschaften und war für ein Jahr im benachbarten Syrien, in Damaskus. Sie reiste seinerzeit mit dem Flugzeug nach Beirut, der eigentlich naheliegende Landweg war damals wegen des anhaltenden Bürgerkrieges im Libanon zu gefährlich. "Irgendetwas hat mich schon damals an diesem Land fasziniert", erinnert sich die Filmemacherin. Die Leidenschaft für Land und Leute im Libanon ist auch nach dem Mord an ihrem Mann geblieben.
Gespräche mit Massenmördern
Als freie Journalistin arbeitete sie erst von hier aus und später aus Kairo. Ihr erstes Radiofeature handelte vom "Alltag im Krieg" in Beirut. Antrieb für ihre Arbeit war immer auch die Suche nach Antworten auf Fragen wie: "Wie wird man zum Täter? Wie zum Mörder?" Fragen, die während ihrer Jugend in Deutschland eine ganze Generation bewegten. Damals wollten sie eine Aufklärung der Fragen nach Mittäterschaft und Verantwortung vieler Deutscher in der Nazi-Zeit.
Um ähnlichen Fragen auch im Libanon nachspüren zu können, interviewt Borgmann anfangs Heckenschützen und später sogar Verantwortliche für Massenmord während des Bürgerkriegs. Als sie 2001 für eine Dokumentation über das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila von 1982 recherchiert, stellt ein gemeinsamer Freund ihr Lokmann Slim vor, da sich beide für "morbide" Themen interessieren würden, wie der Freund damals leicht scherzhaft anmerkte.
Von da an arbeiteten Borgmann und Slim gemeinsam. Sie wurden Partner im Beruf wie im Leben. Erstes gemeinsames Projekt war denn auch ihr Dokumentarfilm "Massaker" über die Verbrechen an den Zivilisten in Sabra und Schatila: Sechs Täter berichten in dem Film eindrücklich, wie es dazu kam, dass sie Menschen folterten und massenhaft ermordeten. Während drei Tagen und zwei Nächten haben damals christliche Milizionäre vermutlich mehrere tausend Menschen getötet.
"Lokman und ich haben uns immer gegenseitig ergänzt", erzählt Borgmann. Sie hatten eine gemeinsame Mission: die historische Aufarbeitung. Doch auf die Frage, wie Menschen zu einer solchen grausamen Tat fähig sein können, fanden letztlich beide Filmemacher keine zufriedenstellende Antwort, sondern immer nur neue Fragen. Auch stießen beide während der Recherchen zu diesem politisch sensiblen und komplexen Thema mehrfach an Grenzen: So fehlte es an einem öffentlich zugänglichen Nationalarchiv mit detaillierten Zeitzeugnissen und historischen Dokumenten über die Zeit des rund 15 Jahre dauernden Bürgerkriegs: Nachfolgende Generationen erfuhren zwar davon, doch jede Bevölkerungsgruppe hatte und hat ihre eigene Sichtweise auf die Ereignisse. Der Geschichtsunterricht in den Schulen endet meist mit der Unabhängigkeit des Libanon 1943.
Aus der Vergangenheit lernen
Als Reaktion auf dieses Versäumnis errichten die beiden ein öffentlich zugängliches Archiv - inmitten der "Dahiye", der schiitisch geprägten Hisbollah-Hochburg im Süden von Beirut. Das Dokumentations- und Recherchezentrum "Umam" soll die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. Borgmann sagt, nur so sei es möglich, dass nachfolgende Generationen aus der Vergangenheit lernen könnten. Seit 2005 weiß sich "Umam" dem Ziel verpflichtet, Lücken im kollektiven Gedächtnis des Landes zu schließen. Unterstützt wird das Zentrum dabei vom Deutschen Institut für Auslandbeziehungen (IFA), dem Auswärtigen Amt in Berlin sowie der Schweizer Botschaft in Beirut. Mit Workshops, Ausstellungen und Diskussionen sollen Besucher für Themen der Erinnerungskultur sensibilisiert werden. Aktivisten, Zivilisten, Diplomaten und Anhänger unterschiedlicher Konfessionen und sozialer Schichten pflegten in "Umam" einen Austausch, der in dieser Form im Land sonst kaum vorstellbar ist.
Die Arbeit von Monika Borgmann und Lokman Slim sehen jedoch nicht alle positiv. Bereits nach Abzug der syrischen Armee aus dem Libanon im Jahr 2005 hätten Drohungen gegen die beiden Filmemacher spürbar zugenommen, erzählt Borgmann. "Immer, wenn etwas Wichtiges im Land geschah, wuchs der Druck auf uns, doch Angst um unser Leben hatten wir nie!" Bis es dann doch zum Mord kam.
Als Lokman Slim am 4. Februar 2021 von sechs Schüssen getroffen in seinem Auto ermordet aufgefunden wird, stellen sich viele die Frage: "Warum jetzt?". Borgmann denkt nach, letztlich kann auch sie nur spekulieren. "Vielleicht wurden ihm seine Recherchen zur Explosion am Hafen von Beirut im August 2020 zum Verhängnis." Denn als Slim kurz nach der Explosion vor die Kameras trat, vertrat er die These, dass nur ein Bruchteil des Ammoniumnitrats im Hafen explodiert sei. Der Rest wäre seiner Meinung nach in den Irak oder nach Syrien gebracht worden. Im politisch polarisierten Libanon gibt es Kräfte, die eine solche Theorie klar als Schuldzuweisung an ihre eigene Adresse verstehen dürften.
Ein "schiitischer Atheist"
Mit der Ermordung ihres Mannes hätten die dafür verantwortlichen Kräfte eine rote Linie überschritten, sagt Monika Borgmann nüchtern. Ein Bekennerschreiben gab es nicht. Aber die Hisbollah und ihr nahestehende Kräfte haben mit Lokman Slim einen eloquenten Gegenspieler verloren. Als Sohn eines schiitischen Rechtsanwalts und einer christlichen Mutter stammte Slim aus einer intellektuellen Familie im heute von der Hisbollah kontrollierten Süden von Beirut. Er blieb bis zu seinem Tod ein unverblümter Kritiker der Hisbollah und zog es doch vor, mit seiner deutschen Ehefrau genau dort zu leben, wo er aufgewachsen war und wo heute diejenigen dominieren, die er kritisierte. Er selbst bezeichnete sich als "schiitischen Atheisten" und sah in der Hisbollah vor allem eine von Iran ferngesteuerte Organisation. Die sogenannte "Partei Gottes" entstand in den 1980er Jahren als Reaktion auf die israelische Invasion des Südlibanon im Jahr 1982. Die Hisbollah ist eine für den Libanon typische Kombination aus Miliz, Partei und Sozialorganisation und zugleich die stärkste militärische Kraft des Landes.
Aus dem Konflikt mit Israel beziehe die Hisbollah bis heute ihre Daseinsberechtigung, sagt Borgman. Doch diese Legitimation könnte weiter schwinden in einer Zeit, in der das Land mit der schwersten Wirtschaftskrise seit Ausbruch des Bürgerkrieges zu kämpfen hat. Es herrscht Hyperinflation, die libanesische Lira verliert fast stündlich an Wert, das Vertrauen vieler Menschen in die Politiker ist ebenso auf dem Nullpunkt - das gilt für sogenannte pro-westliche Kräfte genauso wie für die Hisbollah.
Wütende Proteste und Polizeischutz
Als es im Oktober 2019 zu Massenprotesten kam, trafen sich Aktivisten und Intellektuelle zu Diskussionsrunden, um über den Staat und mögliche Lösungen der Probleme zu diskutieren. Auch Borgmann und Slim nahmen daran teil. Im Dezember 2019 sprachen sie in einer dieser Runden über das außenpolitische Konzept der Neutralität und die Möglichkeit breiter angelegter regionaler Lösungsansätze unter Einschluss des Nachbarn Israel, mit dem der Libanon sich formell immer noch im Kriegszustand befindet. Mehrere Anhänger der Hisbollah fühlten sich davon provoziert, die Situation eskalierte, die wütende Gruppe unterbrach die Teilnehmer und beschimpfte sie als "Zionisten". Borgmann und Slim mussten das Zelt unter Polizeischutz verlassen.
Monika Borgmann zieht eine weitere Zigarette aus der Schachtel, zündet sie an, legt sie wieder weg, lässt sie vor sich hin qualmen, redet weiter. Immer wieder leuchtet das Feuerzeug neu auf, wenn die Filmemacherin mit viel politischer und auch künstlerischer Leidenschaft von der gemeinsamen Arbeit mit ihrem Mann berichtet, von ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement. "Zwanzig Jahre lang haben wir zusammengelebt und zusammengewirkt", sagt Monika Borgmann. "Lokman haben sie zwar ermordet - aber seine Arbeit lebt in uns allen hier weiter."
Lea Bartels
(Hinweis: Bei diesem Autorennamen handelt es sich um ein Pseudonym.)
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