Wettlauf gegen die Zeit
In den vergangenen drei Jahrzehnten gab es immer wieder Initiativen und Vorschläge zur Rettung bedrohter Gebäude – allerdings ohne Erfolg. Die Gier der Immobilienmogule hat nicht nur dramatische Auswirkungen auf die historischen levantinischen Viertel der Stadt, sondern auch auf die Hinterlassenschaften aus der kosmopolitischen Blüte Anfang des 20. Jahrhunderts.
1996 gab das libanesische Kultusministerium eine Untersuchung bei der Association for Protecting Natural Sites and Old Buildings (APSAD) mit dem Ziel in Auftrag, die historisch wertvollen Gebäude der Hauptstadt zu erfassen. Zwar erklärte die APSAD damals 1.051 gefährdete Gebäude für schutzwürdig, aber dennoch verschwinden Beiruts alte Häuser nach und nach.
1997 strich die Regierung mehr als die Hälfte der Gebäude von der Liste. Schon ein Jahr später waren es nur noch 209. Gegen das brachiale Vorgehen der Immobilienentwickler und die unwiderrufliche Schädigung des städtischen Erbes stemmen sich beherzte Bürgerrechtler. Zum Schutz der sterbenden Schönheiten Beiruts rücken sie die verborgenen Edelsteine der Stadt in den Blickpunkt.
Tabula rasa
Den Startpunkt der Nachkriegszerstörung bildete das Beiruter Stadtzentrum. Die Innenstadt war im Bürgerkrieg Schauplatz heftigster Kämpfe. Ein Großteil der Sūqs und der nahegelegene Märtyrerplatz wurden schwer beschädigt oder zerstört. Doch erst Solidere versetzte dem Zentrum den Todesstoß.
Die Immobilienentwicklungsgesellschaft Solidere wurde von Rafikh Harir gegründet, dem ersten libanesischen Premierminister nach dem Krieg. Er machte das Viertel dem Erdboden gleich und ließ dort seelenlose Protzbauten errichten. „Das Gebiet gehört Solidere und alle Maßnahmen dort folgen dem Diktat dieser Gesellschaft“, sagte Mazen Haidar, ein libanesischer Architekt und stellvertretender Leiter des Instituts für Architektur an der Academie Libanaise des Beaux-Arts (ALBA).
Der Märtyrerplatz im Herzen Beiruts stand laut Haidar für die hybride Identität des Libanons. „Der Platz war ja keine homogene Erscheinung. Er bildete vielmehr die libanesische Identität ab. Er war gesäumt von Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert, aus der französischen Ära und aus der Moderne. Mit der Entscheidung von Solidere, den Märtyrerplatz einzureißen, verschwand die Vorkriegsgeschichte des Libanons“, so Haidar.
In der Innenstadt ist heute jede Erinnerung an das alte Beirut ausradiert. Aber abseits davon findet man noch Reste des architektonischen Erbes – allerdings über die gesamte Hauptstadt verteilt. Die Rettung und Wiederbelebung des 300 Jahre alten Roten Hauses aus dem 19. Jahrhundert, die Umwidmung des Barakat-Hauses aus den frühen 1920er Jahren zu einem Museum und die Erhaltung des Heneine-Palastes sind Beispiele für erfolgreiche Kampagnen zum Schutz der einst majestätischen Häuser der Stadt.
Die politische Dysfunktion des Landes bildet die wohl größte Hürde auf dem Weg zu greifbaren Ergebnissen im Libanon. Der Libanon ist seit Mai 2014 ohne Präsident. Die letzten Parlamentswahlen fanden 2009 statt. Und die Regierung kann noch nicht einmal verhindern, dass Beirut unter Müllbergen zu ersticken droht.
Aktivismus in einem Vakuum
Auf dem Märtyrerplatz reckt ein Dutzend Kräne seine Stacheln in die Luft, als griffe ein gigantischer Tintenfisch nach seiner Beute.
„Kein Gesetz schützt das libanesische Erbe“, sagt Joseph Haddad, Generalsekretär der Association for the Protection of the Lebanese Heritage (APLH). „Unser einziges Gesetz zum Schutz der Architektur stammt aus dem Jahr 1933. Und auch das ist eigentlich nicht libanesisch. Die Franzosen führten es während ihres Mandats im Libanon ein.“
Die APLH wurde 2010 als Facebook-Seite mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Aufmerksamkeit auf den baufälligen Zustand des architektonischen Erbes der Stadt zu lenken. Die Gruppe veranstaltete mehrere Sitzstreiks zum Schutz abbruchbedrohter Gebäude, weitete ihre Aktivitäten aber schon bald auf die Unterrichtung und Dokumentation über das architektonische und kulturelle Erbe ihres Landes aus.
Die APLH will laut Haddad vor allem Aufmerksamkeit wecken. „Mit Kultur, Geschichte und Identität verhält es sich wie mit der eigenen Gesundheit. Ihren Wert erkennt man erst, wenn sie verwirkt ist“, so Haddad. „Wir müssen das libanesische Volk ständig an die Bedeutung dieser Faktoren erinnern. Wir machen das mit viel Kreativität und Begeisterung. Denn wir wollen, dass die Menschen ihre Kultur und ihr Erbe feiern.“
Im Rückblick auf sechs aktive Jahre in Beirut weist Haddad auf ein besonderes Highlight hin: Die von der APLH initiierte Crowdmap zur Dokumentation aller archäologischen Stätten und Überreste aus dem architektonischen Erbe Beiruts. „Dank der Crowdmap erhalten wir das Andenken an ein Gebäude, auch wenn es von Immobilienentwicklern zerstört wird“, meint Haddad.
Mazen Haidar verweist ebenfalls auf die Bedeutung der Unterrichtung und Dokumentation zur Bewahrung des architektonischen Erbes. „Aufmerksamkeit erhalten wir nur, indem wir kontinuierlich unser Ziel verfolgen, ohne dabei zu überziehen“, sagt er. „Zunächst einmal sollte das vorhandene Erbe dokumentiert werden und die Bürger sollten auf ihre Preziosen aufmerksam werden.“
In Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Institut des Arab Centre for Architecture veranstaltet Haidar Konferenzen, Workshops und Rundgänge. So will er den Bürgern Beiruts das arabische Erbe ihrer Stadt aus der jüngeren arabischen Geschichte näherbringen. „Wenn die Menschen den Wert dieser Gebäude erkennen, können wir deren Eigentümer oder die zuständigen Politiker möglicherweise davon überzeugen, der Zerstörung Einhalt zu gebieten“, so Haidar.
Der Bürgerkrieg trennte die Bevölkerung Beiruts damals in Ost und West. 26 Jahre später scheuen sich die Bewohner immer noch, diese Ost-West-Grenze zu überqueren. Aktivisten wie Haidar wollen die Menschen daher ermutigen, Beirut aus einer anderen Perspektive kennenzulernen. „Mit den Rundgängen möchten wir den Menschen die Augen für eine andere Sicht auf ihre Stadt öffnen.“
Changiz M. Varzi
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers