"Fanatismus der Liebe"
Im arabischen Sprachraum ist die Geschichte von Leila und Madschnun populärer als die von Romeo und Julia bei uns. Obwohl sie von Liebenden handelt, die voneinander getrennt werden und sich nur einmal, nach langer Zeit, wieder sehen. Madschnun gibt nicht auf, er liebt und leidet immer mehr, steigert sich in seine Gefühle hinein, fanatisch und romantisch.
Es gibt diesen Stoff in den unterschiedlichsten Fassungen und Sprachen: auf Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Aserbaidschanisch und vielen mehr. Am bekanntesten ist die Versdichtung des persischen Poeten Nizami, die im 12. Jahrhundert entstanden ist.
Madschnun irrt durch die Welt. Seine Gedanken sind bei der fernen Geliebten, die er nicht wieder sehen darf. Er gibt sich ganz seinen Gefühlen hin, bis sich sein eigenes Ich auflöst. Madschnuns Ideal ist es, dass aus ihm die pure Liebe spricht, kein Individuum mehr. Deshalb hat er auch seinen ursprünglichen Namen abgelegt.
Als er sich als Kind in die ebenso junge Leila verliebte, war er ein Königssohn, zum Herrschen bestimmt. Doch die Erwachsenen halten die enge Bindung der beiden für krankhaft und trennen sie. Nun nennt sich der Prinz Madschnun, was übersetzt "der Verrückte" oder "der Besessene" bedeutet.
Blockflöte des Wahnsinns
Willy Decker, Intendant der Ruhrtriennale, hatte die Idee, aus dem persischen Versepos "Leila und Madschnun" ein Musiktheaterstück zu machen, eine Kombination aus Oper und Schauspiel.
"Das ist der große Gegensatz, dass hier – wenn der Weg zu dem Objekt der Liebe, dem Individuum, dem Menschen, versperrt oder zerstört ist – die Liebe nicht in sich zusammenfällt oder stirbt, sondern sich weitet und in eine Totalität übergeht, die dann kosmisch oder ebenso gar spirituell wird", erklärt Decker.
Die Musik hat Samir Odeh-Tamimi geschrieben, ein palästinensisch-israelischer Komponist, der schon viele Jahre in Deutschland lebt. Die Blockflöte ist das Instrument des Wahnsinns. Die Musik steckt voller Dissonanzen und greller Glissandi, Odeh-Tamimi sieht sich in der Tradition der europäischen Avantgarde.
Hagen Matzeit singt Madschnun, alle anderen Rollen sind mit Schauspielern besetzt. Die Partitur verlangt ständige Wechsel zwischen den Höhen eines Countertenors und Baritontiefen. Es ist eine fast durchweg laute, schrille, an den Nerven zehrende Musik, die nur wenige Zwischentöne kennt.
Von der Liebe erzählt die Musik kaum, aber viel von Gedankenverwirrung und vom Krieg. Denn Textdichter Albert Ostermaier hat das Stück in eine zeitgenössische Rahmenhandlung versetzt. Es ist Krieg, ein Soldat, der das Liebesepos in Buchform bei sich trägt, wird schwer verwundet. Die Geschichte von "Leila und Madschnun" ist der Fiebertraum eines tödlich Verwundeten.
Ostermeier hatte dabei einen Krieg im arabischen Raum im Kopf, oder den Krieg in Afghanistan. "Das ist ja nichts Erfundenes", erklärt der Autor, "dass Soldaten mit sich tragen. Diese Bücher halten sie in einer Welt, in der alles auseinander fällt."
Pathos und magische Bilder
Ostermaier versucht, die Gefühlsintensität der Vorlage des persischen Dichters Nizami zu erhalten. Dabei rutscht er allerdings häufig ins plakative Pathos, manche Szene wirkt unfreiwillig komisch. Die Bilder allerdings, die Regisseur Willy Decker und Bühnenbildner Wolfgang Gussmann finden, sind grandios.
Die Bühne in der Bochumer Jahrhunderthalle ist voller Sand. Darauf steht ein riesiger Militärtruck, Soldaten rennen umher, schießen und werden erschossen. Maschinengewehrsalven und Granatenexplosionen krachen aus den Lautsprechern. Dann hebt sich der Laster wie von Geisterhand und schwebt unter die Decke. Von den Reifen rieselt Sand aus großer Höhe herab, eingetaucht in dramatisches Licht. Das sind magische, überwältigende Bilder.
In der arabischen Welt gilt Madschnun als Held wegen seiner Bereitschaft, gewaltiges Leid auf sich zu nehmen. Willy Deckers Inszenierung zeigt auch andere Seiten. Madschnun lässt einen grausamen Krieg führen und opfert seinen Vater, normale Gefühle sind ihm fremd. Am Ende übergießt er sich mit Benzin und zündet sich an. Als lebende Fackel wankt er von der Bühne. Der Weg vom fanatischen Liebenden zum Selbstmordattentäter ist kurz.
Die Angst vor Extremismus und die Suche nach den Wurzeln von Terrorismus und Krieg ist ein großes Thema der Ruhrtriennale. Aber sie zeigt auch die andere Seite der islamischen Kultur, den Reichtum von Poesie und Literatur, die rauschartige Faszination der Sufi-Musik und tanzender Derwische. Die Ruhrtriennale hat ein spannendes und vielschichtiges Thema gewählt. Mit den Mitteln der Kunst sucht das Festival Wege zur Verständigung.
Stefan Keim
© Deutsche Welle 2010
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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