Stille Revolution
Das Morgenmagazin im saudischen Staatsfernsehen moderieren derzeit eine Frau und ein Mann Mitte Dreißig, beide traditionell gekleidet. Allerdings bedeckt der Schleier nur teilweise Haar und Hals der Moderatorin. Eine solche Szenerie wäre bis vor wenigen Jahren im Geburtsland des Islam undenkbar gewesen. Ebenso der Gegenstand des ersten Magazinberichts – eine Kunstausstellung in Jeddah.
Sie hat den Titel "Tabayun“, (arab. Kontrast), und präsentiert 40 Gemälde von 36 einheimischen jungen Künstlerinnen und Künstlern. Die Arbeiten mit unterschiedlichsten Sujets und Stilrichtungen meist westlicher Provenienz zeigen Stillleben, Landschaften, Porträts und moderne arabische Kalligrafie. Sie wirken etwas amateurhaft, hier werden junge Talente gefördert.
Veranstalter sind die lokale Niederlassung – eine von insgesamt 16 – der staatlichen gesamtsaudischen "Vereinigung für Kultur und Kunst“ sowie die gemeinnützige Qubays-Stiftung aus Mekka, die ebenfalls überregional aktiv ist. Sie wird von dem Förderprojekt "Hobby“ mitfinanziert, das Teil des staatlichen Entwicklungsprogramms "Saudi Vision 2030“ ist. Die Qubays-Stiftung begreift sich laut ihrer Selbstbeschreibung als Dachorganisation für Künstlerinnen und Künstler, die diesen ermöglichen soll, Erfahrungen durch Kunstausstellungen und Konferenzen auszutauschen. In einem eigenen Shop im Internet werden neben Malutensilien auch Gemälde der Mitglieder zum Verkauf angeboten.
Die frühere Kunstfeindschaft ist Geschichte
Kunstausstellungen finden mittlerweile laufend im ganzen Land statt. Offensichtlich soll Kreatives nach dem Willen der Regierung die frühere Kunstfeindschaft der strengreligiösen saudischen Wahhabiten vergessen machen. So lobt denn auch die TV-Moderatorin die Ausstellenden: "Es sind bildende Künstler der neuen ambitionierten und kreativen Generation, die schon viele zeitgenössische Kunstwerke hervorgebracht hat.“
Die Reporterin vor Ort befragt Alawiya al-Abd Darus. Die Künstlerin ist Anfang 20, ihr Gesicht ist mit einer dunklen Atemschutzmaske bedeckt. An den Ärmeln ihrer schwarzen Abaya funkeln silberne Blumenmuster. Ihr Gemälde zeigt das Profil einer Frau mit offenem Haar, umflattert von weißen Tauben und umringt von hellblauen Wölkchen. Für die angehende Künstlerin ist die Taube, wie sie erläutert, auch eine Chiffre für den inneren Frieden. Am Ende des Gesprächs dankt sie der anwesenden Mutter für deren Unterstützung – und das "aus tiefstem Herzen“.
Ausdrücklich wird hier Respekt vor der – noch vollverschleierten – Mutter demonstriert, gleichzeitig aber Modernität zur Schau gestellt. Selbstverständlich erweist man auch dem herrschenden König Salman bin Abdulaziz Al Saud bei der Ausstellungseröffnung die Ehre – mit einem großformatigen Plakat seines Konterfeis. Er und Kronprinz Mohammed bin Salman streben mit dem milliardenschweren Entwicklungsprogramm "Saudi Vision 2030“ eine rasche Modernisierung des Königreichs an, auch mit Hilfe der Kultur.
Die Zahl der Kreativen wächst
So wurde Ende 2018 in Saudi-Arabien erstmals ein eigenständiges Kulturministerium eingerichtet, das künstlerische Aktivitäten, ausdrücklich auch von Frauen, in elf Bereichen massiv fördert: Von Literatur über Theater und Performing Arts bis hin zu Film, Musik und Kunst, für die möglichst schnell jeweils auch ein Markt entstehen soll. Praktisch aus dem Nichts sind so binnen weniger Jahre fast 500 Kinos entstanden, die, wie auch Kunstausstellungen und Musikkonzerte, von einem geschlechtergemischten Publikum besucht werden.
Zwar hat man sich die Öffnung gegenüber der westlichen Kultur auf die Fahnen geschrieben. In der zeitgenössischen saudischen Kunst spielen aber Sujets aus lokalen und nationalen Traditionen von Kalligrafie bis Folklore eine ebenso wichtige Rolle. Rein religiöse Motive scheinen hingegen nicht besonders gefragt zu sein. Für alle geförderten Kulturschaffenden gilt, dass sie unpolitisch bleiben müssen, wird doch selbst die leiseste Kritik am Königshaus nicht geduldet.
Entsprechend affirmativ klingt dann der 56-jährige prominente saudische Dichter, Bühnen- und Sachbuchautor Saleh al-Shadi, der die Schau eröffnet hat und sie für das lokale Newsportal "Jeddah Today“ resümiert: "Die jetzige Ausstellung setzt vorangegangene Auststellungsprojekte ausgesuchter junger Künstlerinnen und Künstler fort. Die Kreativen machen Fortschritte und ihre Zahl wächst. Alle ausgestellten Werke haben ihre philosophische Grundlage und entstammen einem ausgeprägten Kunstverständnis.“ Der Dichter sieht bereits "eine wahrhaft schöpferische Generation“ aufblühen, mit einer besonderen Mission: "Der Welt die saudische Kunst in umfassender Form zu präsentieren.“
Westlichen Beobachtern mag die Mischung aus Weltoffenheit und Konservatismus, die in der vom Staat gerne geförderten zeitgenössischen saudischen Kunst zum Vorschein kommt, befremdlich erscheinen.
Gegen diese Sichtweise wandte sich schon 2019 der amerikanische Orientalist Sean Foley in seinem Buch "Changing Saudi Arabia: Art, Culture, and Society in the Kingdom“ – die bislang umfassendste Untersuchung zum kulturellen Wandel im Land. Laut Foley ist die Annahme, westlich beeinflusste Kunst sei im Nahen Osten immer Produkt oppositioneller Kräfte, die sich gegen autoritäre und vom Islam geprägte Regime richteten, im Fall Saudi-Arabiens irreführend.
Denn die saudischen Künstler lehnen Foley zufolge den Kerngedanken der westlichen Moderne ab, dass sich die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung zwangsläufig vom Stammesgedanken zugunsten des Individualismus verabschiedet: "Sie sind Künstler, aber sie sind keine Individuen im westlichen Sinne.“ Gerade dies erlaube es ihnen, für unterschiedliche, sogar widersprüchliche Kräfte, offen zu bleiben.
Obgleich Foleys Feldforschung in Saudi-Arabien mittlerweile schon fast ein Jahrzehnt zurückliegt, wird man ihm bei der Betrachtung der heutigen saudischen Kunstszene kaum widersprechen wollen. Vielleicht auch deshalb ist sein Buch kürzlich vom Verlag der in Riad ansässigen saudischen Stiftung "Adab“ (arab. Literatur) in arabischer Übersetzung veröffentlicht worden.
Die Stiftung, die unter anderem vom staatlichen saudischen Fonds für Kulturentwicklung (Cultural Development Fund) – Teil der Förderprogramme von "Saudi Vision 2030“ –, unterstützt wird, setzt sich energisch für den Dialog mit der westlichen Kultur ein. Neben Foleys Buch sind unter den ersten Publikationen des Verlags auch etwa Lexika zur Weltliteratur und zur Philosophie zu finden – letzteres zeigt auf seinem Umschlag den österreichisch-britischen jüdischen Philosophen Karl Popper.
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