Ist der Schöpfer ein Sadist?

In seinem neuen Buch beschäftigt sich Navid Kermani mit Gottes Gerechtigkeit und dem Sinn des Leidens. Ausgangspunkt sind das Hiob-Motiv und "Das Buch der Leidens" des persischen Mystikers Faridoddin Attar.

Von Lewis Gropp

​​Die Auflehnung gegen Gott war in der islamischen Orthodoxie ebenso wenig akzeptiert wie sie auch im orthodoxen jüdischen und christlichen Verständnis an den Rand gedrängt wurde.

In der mystischen Tradition dieser drei monotheistischen Religionen aber erkannte man in der Auflehnung gegen Gott eine besondere Art der Hingabe und Frömmigkeit – welche allerdings als Privileg nur Propheten und Heiligen vorbehalten war.

In seinem Buch "Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte" arbeitet der Kölner Islamwissenschaftler Navid Kermani eben jene Auflehnung gegen Gott als zentrales Motiv in Faridoddin Attars "Buch des Leidens" heraus. Diese "metaphysische Revolte" ist die Antwort des frommen Gläubigen auf das Leiden, das der Schöpfer scheinbar so ungerecht verteilt.

"Wie sind das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt in Einklang zu bringen mit dem Bild, das uns von Gott gelehrt wurde", so formuliert es Kermani. An dieser Fragestellung entzündet sich der Protest des Mystikers.

Farioddin Attar zählt zu den vergessenen großen Dichtern der Weltliteratur. Die Schriften des islamischen Gelehrten stehen mitunter im krassen Gegensatz zum überlieferten Verständnis des Islam und zum koranischen Gottesbild; anders aber als beispielsweise der Mystiker Beyazid Bestami hält Attar immer am Prinzip der Unterwerfung fest.

Ausbruch häretischer Frömmigkeit

Dennoch: "Der gewaltigste Ausbruch einer häretischen Frömmigkeit innerhalb des islamischen Kulturkreises scheint mir (...) bis heute 'Das Buch der Leiden' zu sein", so Kermani. Anschaulich beschreibt der Autor, dass und wie das biblische "Hiob"-Motiv auch vom Islam und insbesondere von dem persischen Mystiker aus Nischapur aufgegriffen wurde.

Hiob, der sowohl in der christlichen wie auch in der islamischen und jüdischen Mystik eine bedeutende Rolle einnimmt, lehnt sich zwar gegen seinen Schöpfer auf, gleichwohl entschließt er sich aber, Gott nicht nach menschlichem Maßstab zu beurteilen und sich Ihm so in der Auflehnung gleichwohl zu unterwerfen.

Die Aufklärung und der Koran

Im Zuge der Aufklärung waren die europäischen Theologen indessen nicht mehr in der Lage, diese aporetische Dialektik zu vermitteln. "Der Schrecken Gottes" zeigt hier noch einmal auf, wie europäische Kultur und Wissenschaft den Glauben an einen guten Gott und an Gott an sich vertrieben haben.

Die Empiriker trieben die Theodizee – die Rechtfertigung Gottes – mit unnachgiebiger logischer Stringenz in die Ecke, und Dichter und Denker wie Georg Büchner entdeckten im vom Menschen erlittenen irdischen Schmerz den "Fels des Atheismus".

Kermani verknüpft die verschiedenen Diskurse mit intellektueller und stilistischer Brillanz und einer Fülle von hervorragend ausgewählten Zitaten.

Unter anderem lässt er auch Ibn ar-Rawandi zu Wort kommen, den berühmtesten Atheisten der islamischen Geistesgeschichte, und zeigt so auf, dass man im islamischen wie auch im europäischen Kulturraum mitunter die gleichen Gedanken zu den entsprechenden Fragestellungen entwickelt hat:

"Wie viele der Verständigsten unter den Verständigen sind im Elend, und wie viele der Unwissendsten unter den Unwissenden erhalten ihr täglich Brot! Das ist es, was die Gedanken irre und den großen Gottgelehrten zum Ketzer werden läßt."

Göttliche Vollkommenheit im Koran

Gleichwohl weist Kermani darauf hin, dass der koranische Weltentwurf wesentlich expliziter als in der christlichen oder jüdischen Tradition eine göttliche Vollkommenheit postuliert: "Du siehst in der Schöpfung / Des Allerbarmers keinen Riß" (Sure 67,3 f.).

Auch die Frage nach dem Schuldprinzip ist in der islamischen heiligen Schrift eindeutig geklärt. "Was dir Gutes widerfährt, ist von Gott, / Und was dir Böses widerfährt, ist von dir selbst" (Sure 4,79).

"Mehr noch als Allmacht betont der Koran die Gerechtigkeit Gottes", schreibt Kermani und zitiert Sure 4,40: "Gott tut nicht Unrecht im Gewicht eines Stäubchens."

Die Tatsache, dass der Mensch Gottes Gerechtigkeit nicht erfassen kann, liege darin begründet, dass Gott anders sei als alles, was der Mensch sich vorzustellen vermag; ein Topos, der sich durch die gesamte arabische Philosophie zieht, so Kermani.

Innerlichkeit und Weltverachtung

In diesem geistesgeschichtlichen Kontext fächert Kermani also die Dichtung Attars auf. Charakteristisch für seine Schriften sind seine "Beschwörung des Leidens, sein Hang zur Askese, seine ostentative Innerlichkeit und seine Weltverachtung", wie Kermani schreibt. Und mit der Erfahrung der literarischen Moderne scheint die islamische Mystik des 13. Jahrhunderts zunächst kaum zeitgemäß.

Doch die große Attar-Studie von Hellmut Ritter – die dieser während der Nazizeit im türkischen Exil verfasste und die nach Kermani für sich genommen schon eine "Daseinsberechtigung" für die westliche Orientalistik darstellt – legte dann, nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert, die literarische Größe des Dichters frei. Ritters Studie prägt das Attar-Bild bis heute; mit ihr als Kronzeugin ist es Kermanis Anliegen, Attar in den Rang der Weltliteraten zu führen.

Stilistisch gelungen und mit einer kühn alles erfassenden philologischen Akuratesse zeichnet der Autor Attars "radikale Kosmologie des Schmerzes" nach. In einer Welt, in der ihre Kreaturen gequält werden, erscheint der Schöpfer als Sadist, und der hingebungsvoll Glaubende, der nicht von Gott lassen kann und die Nähe zu Ihm sucht, läuft Gefahr, einen masochistisch begründeten Glauben zu entwickeln, so auch bei Attar. "Das Welt- und insbesondere Gottesbild Attars ist tatsächlich in hohem Maße verstörend", schreibt Kermani.

Nichtsdestotrotz hat Attar mit seiner Dichtung ein farbenreiches Werk geschaffen, dem sogar Kindlers Neues Literaturlexikon bescheinigt, dass es "unterhaltsam" sei. Die Parabeln und Anekdoten funkeln mit schneidend düsterem Witz.

Als sich ein Bettler bei Gott beklagt, dass er nicht einmal ein Leinentuch habe, um seine Scham zu bedecken, antwortet eine göttliche Stimme: "Ich werde dir ein Leinentuch geben: dein Totenhemd." Mit dieser und etlichen weiteren Anekdoten und Parabeln ist das Buch reich angefüllt.

Dabei rekurriert Kermani mit schlafwandlerischer Sicherheit auf Koran, Kaballa, Scholastik, geleugnete Einflüsse arabischer Dichtung auf Dantes "Göttliche Komödie", deutschen Nihilismus, französische Lyrik des 19. Jahrhunderts und zahllose weitere Diskurse und Subdiskurse – und demonstriert eindrucksvoll, dass und wie islamische Mystik des 12. Jahrhunderts universelle Fragen verhandelte, die auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwühlen.

Ganz zum Schluss seiner Abhandlung formuliert Kermani einen Aphorismus, der belegt, wie stark die Zeitbezüge dieses Sujets zur Gegenwart sind: "Die Größe einer Kultur erweist sich nicht zuletzt, wo sie den Affekt gegen ihre größten Autoritäten zulässt, sogar den Affekt gegen Gott."

Lewis Gropp

© Qantara.de 2006

Navid Kermani: Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte. C.H. Beck, München 2005, 335 Seiten, 24,90 €

Lewis Gropp ist freiberuflicher Journalist und Übersetzer in Köln und arbeitet seit 2003 als Redakteur für Qantara.de.

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Navid Kermani's Buch "Der Schrecken Gottes" im C.H. Beck-Verlag