Vom Staunen und vom Zweifeln
Mit seinem neuesten Buch löst Navid Kermani ein Versprechen ein. Der Großvater hatte sich gewünscht, dass der Autor der Enkeltochter "unseren Islam“ lehrt. Einen Islam, den man nicht in Bibliotheken oder Klassenzimmern findet, sondern im Leben der Menschen, auf der Straße, in der Natur.
Im persönlichen Diskurs über Gott und die Religion versetzt Kermani nicht nur die eigene Tochter ins Schmunzeln, Zweifeln und Staunen, sondern auch seine Leserschaft. Er spricht über Vergänglichkeit und Unendlichkeit, über Vertrauen, Quantenphysik und Tradition, über den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft, aber auch über die Krise, in der sich die monotheistischen Religionen im 21. Jahrhundert befinden. Kermani mahnt, das Wissen über die Religionen sei mindestens genauso wichtig wie das Studium der Naturwissenschaften und der Sprachen, um unsere Welt zu verstehen.
Wo die Sprache nicht mehr hinreicht
Aber wie erklärt man einem Kind, was Glaube ist oder wer oder was mit Gott gemeint ist? Jostein Gaarder hat das in seinem Roman über die Geschichte der Philosophie ganz wunderbar vorgemacht – indem man Fragen stellt und sich auf eine Reise begibt. Das tut Kermani auch und stellt zügig fest, das Problem der Theologie liege darin, dass sie versucht, etwas zu lehren, das sich nicht lehren lässt. Über das Unaussprechliche sprechen zu wollen, vergleicht der Autor mit dem Schwimmen: "Das kannst du nicht denken, das kannst du nur erleben.“
Gleich wie detailreich und präzise das Eintauchen, das Gefühl des Körpers, der im Wasser schwebt, beschrieben werden: Wer nie geschwommen ist, kann nur ahnen, wovon die Rede ist. Ähnlich verhält es sich mit der Ekstase, in die einen Melodien und Harmonien versetzen oder mit dem Verliebtsein. Das liegt daran, weil das Sich-Hineinversetzen in Gefühle auf Erfahrungen basiert und ein Zurückgreifen auf das Repertoire des Erlebten ist.
Mit dem Glauben an Gott verhält es sich ähnlich. Sich der Religion zu öffnen, setzt nicht nur den Willen und das Vermögen voraus, mit dem Kopf zu verstehen, erklärt der Vater der Tochter, sondern auch die Lust, alle Sinne miteinzubeziehen.
"Straßendienst" für den Islam
Viele stellen sich vermutlich die Frage, warum beziehungsweise wie Menschen überhaupt noch glauben können, bei all den Grausamkeiten, die im Namen der Religion, im Namen Gottes, passiert sind und täglich noch passieren. Allein die Kirchenaustritte im vergangenen Jahre sprechen Bände. Wie können sich also Menschen im Gebet an einen Gott wenden, der es zulässt, dass sich religiöse Fanatiker in die Luft sprengen und kirchliche Würdenträger Kindern sexuelle Gewalt antun?
Kermani spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einem "Straßendienst“, wie er es nennt, den der Islam dringend bräuchte. Er schreibt auch darüber, wie der Koran ausgelegt und interpretiert wird. Viele islamische Gelehrte würden nur das wiedergeben, was andere lange vor ihnen aufgeschrieben hätten. Er reflektiert darüber, dass sie "die lebendige und damit veränderliche Beziehung zum Koran verloren haben.“ Sie würden quasi die Religion nicht im Hier und Jetzt leben, sondern einen Islam aus dem Mittelalter praktizieren.
Die Folgen dieses Verlustes einer lebendigen Beziehung zum Koran reichen von Rückständigkeit über Unvernunft bis hin zur Frauenfeindlichkeit. Der Orientalist spricht nicht nur über das Gute, wozu der Glaube den Menschen befähigen kann, sondern auch über die Schattenseiten des Glaubens, über Zustände, die eine Beziehung zu Gott ungemütlich machen können, die zweifeln lassen.
Dennoch gehen für Kermani Gottes Wahrheiten über die Wahrheiten und die Logik der Menschen hinaus. Für den Schriftsteller ist die Religion nichts Kompliziertes, das Problem sei eher ihre Einfachheit. Im Grunde ist ein Muslim ein Mensch, "der sich aus Einsicht in die eigene, menschliche Beschränktheit dem Unendlichen unterwirft.“ Auch wenn der Vater einräumt, dass Worte wie Macht und Unterwerfung negativ konnotiert sind, sei diese Haltung gar nicht so unselbstständig, wie es beim Hören klingen würde. Das bedarf einer Erklärung.
Denn wenn Glaube Unterwerfung bedeutet, könnte man meinen, der Gläubige höre im Umkehrschluss auf, selbstständig zu denken. Kermani schreibt hingegen, der Gläubige würde sich keinem Menschen, keinem Präsidenten unterwerfen, sondern einer höheren Kraft. Im Gegenteil, es könnte sogar eine Form der Befreiung sein, sich nicht Macht, Geld oder Anerkennung zu unterwerfen, sondern schlicht dem Glauben an Gott.
Kermanis Lieblingswort im Koran heißt "vielleicht“
Bevor sich am Ende des Buches der Epilog anfügt, erzählt der Vater der Tochter vom großen "vielleicht“, Kermanis liebstem Wort im Koran, wie er zugibt. Im "vielleicht“ lägen für ihn nicht nur die Freiheit, die Verantwortung und die Suche nach Erkenntnis. Von diesem "vielleicht“ wird unser ganzes Leben dominiert. Der Mensch wisse weder, wann er geboren wird, noch wann er stirbt. Er ist zu Unglaublichem in der Lage und weiß trotzdem über vieles nicht Bescheid.
Für Kermani liegt das ganze Drama eben "in diesem 'vielleicht‘, dass die Schöpfung seit der ersten Zellteilung ist.“ Am Ende bleibt dem Menschen nichts anderes übrig als zu vertrauen, so wie das Kleinkind den Eltern vertraut, dass sie sich kümmern. Deshalb heiße es auch in der Bibel, wir sollen den Glauben von den Kindern lernen.
Jeder und jede liest ein und dasselbe Buch anders, schreibt Kermani. Das ist der Schatz, den die Literatur für jeden einzelnen von uns bereithält. "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen“ lädt auch zum Zweifeln ein und das, so der Autor, bedeute in erster Linie, dass wir selber denken.
© Qantara.de 2022
Navid Kermani, "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott," 240 Seiten, Hanser Verlag.