Schöner neuer Orient?
Aldous Huxley hätte wohl an Kermanis neuem Buch "Schöner neuer Orient" reges Interesse gefunden und dessen scharfsinniger Analyse der Globalisierungsprozesse in der islamischen Welt durchaus etwas abgewinnen können. Denn während Huxley in seinem Roman "Schöne neue Welt" noch das gespenstische Szenario einer elitären und entseelten, postmodernen Weltgesellschaft entwirft, die sich schon längst von den von Armut und Verfall geprägten Regionen abgekoppelt hat, geht Kermani noch einen Schritt weiter: Anhand von sechs Reportagen aus verschiedenen Städten der islamischen Welt beschreibt er, dass sich die Folgen der Globalisierung auch inmitten vieler krisengeschüttelter Staaten des Orients bemerkbar machen: Luxus, Konsum und moderner Lifestyle, wie man ihn genauso gut im Westen findet – mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich diesen Reichtum nur eine Schicht weniger Privilegierter leisten kann. Wohlstandsghettos im Mikrokosmos, umgeben von Stadtvierteln, die immer mehr verarmen, in denen die Kriminalität rasant wächst und aus denen sich der Staat immer mehr zurückzieht.
Eindringlich warnt Kermani vor den Folgen dieses Prozesses: Zwar würden nicht zwangsläufig Chaos und Anarchie anstelle eines Staates treten, der die Grundbedürfnisse der Bevölkerung in Städten wie Karatschi, Teheran oder Kairo immer weniger befriedigen kann. Vielmehr sei Privatwirtschaft, Selbstorganisation und -hilfe an die Stelle des zunehmenden Zerfalls staatlicher Ordnung getreten. So z.B. im pakistanischen Karatschi, wo der öffentliche Nahverkehr heute von Privatbussen gemanagt wird oder in Kairo, wo islamische Organisationen zahlreiche karitative Aufgaben übernehmen, etwa bei der Armenspeisung oder im Gesundheitswesen.
Nichtsdestotrotz sind die Schattenseiten dieses staatlichen Entkopplungsprozesses – als Folge der Globalisierung – in vielen Ländern der islamischen Welt unübersehbar: Radikal-islamistische Tendenzen, mafiöse Clans, die sich stärker ausbreiten, bis hin zum Ausbruch von Bürgerkriegen. Am Beispiel Tadschikistans macht der Islamwissenschaftler Kermani deutlich, welche Auswirkungen das staatliche Vakuum für die Gesellschaft des Landes haben kann: Das Auftreten von Milizen und Warlords, die mit Gewalt um ihre Machtpfründe kämpfen. Ähnlich wie in Afghanistan oder Algerien wird dabei deutlich, dass es sich hierbei nicht um ein rein ethnisches Konfliktphänomen handelt. So schreibt Kermani: Je länger das Chaos anhält, desto mehr reduziert sich der Krieg auf einen Kampf um die Zinsen der Macht: um die ertragreichen Ämter, Versorgungsunternehmen, Fabriken, Bodenschätze und nicht zuletzt die Straßen und Wege, auf denen Drogen und Konsumgüter geschmuggelt oder wenigstens die Durchreisenden um Wegegeld erpreßt werden können. In diesem Zusammenhang kritisiert der Autor die in den westlichen Medien leider immer noch vorherrschenden stereotypen Interpretationen, die vor allem kulturalistische Erklärungsmodelle bedienen: Oft ist von archaischen und vormodernen Stammesgesellschaften die Rede, die vermeintlich undurchschaubar und irrational agieren würden. Dabei verschleiern diese Interpretationen oft die eigentlichen Ursachen des Konflikts: den Kampf um wirtschaftliche und politische Macht.
Leider ziehen sich diese Analysen nicht wie ein roter Faden durch alle Reisereportagen des Autors. Vielmehr hat man es mit einem Kaleidoskop vieler Eindrücke und Begegnungen zu tun, die über Jahre entstanden sind und sehr unterschiedliche Akzente setzen. Lesenswert sind Kermanis Berichte dennoch allemal, da sie erkenntnisreich und tiefgründig zugleich sind sowie mit gängigen Klischees und oberflächigen Deutungen vom "Islam zwischen Tradition und Moderne" gründlich aufräumen.
"Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen" ist im C.H. Beck-Verlag erhältlich.
Arian Fariborz, © 2003 Qantara.de