Magisches Karachi

Verkehrschaos in der Megastadt Karachi, Pakistan
Verkehrschaos in der Megastadt Karachi, Pakistan (Foto: Picture-alliance/Asianet Pakistan/R. Ali)

Jürgen Wasim Frembgens neues Buch “Bambasa Street” ist eine faszinierende Erzählung über die Traditionen der afrikanischen Diaspora in Pakistans größter Metropole.

Von Marian Brehmer

“Ein Straßenköter reibt sich scheppernd und krachend an dem eisernen Rollo eines Ladens. Als ein junger Bursche beginnt, den Teeausschank auszufegen, wird dieser im Nu zum Tanzboden einer Armee von Sandflöhen. Sie springen toll, stechen zu, scheinen keine Kreatur zu verschonen. Ich nehme Reißaus, wechsle die Straßenseite und betrete Baghdadi, ein armseliges Viertel der Hafenstadt Karachi.” 

Diese Eingangsszene gibt den Ton an für Jürgen Wasim Frembgens neues Buch Bambasa Street (Schiler & Mücke, 2023), eine dichte Erzählung mitten aus den Gassen und Gossen von Pakistans bevölkerungsreichster Metropole. 

“Ähnlich wie Krähen ihre Nahrungsverstecke wiederfinden, navigiert der Ethnologe in der Megacity nach seinem inneren Kompass und lässt sich von seinem Wissensdurst lenken”, schreibt Frembgen, dessen Kompass wohl kalibriert ist durch seine zahlreichen Reisen nach Pakistan, bei denen er sich immer neuen Aspekten der Landeskultur widmet.

In Bambasa Street steigt der Ethnologe hinab in die Untiefen einer “wilden kosmopolitischen Megacity, die in Staub und Dreck, Verkehr und Lärm, zu ersticken droht”. 

Die Bambasa Street, deren Name das ferne Ostafrika heraufbeschwört, liegt in Baghdadi, einem armseligen, von Gangsterbanden beherrschten Viertel von Karachi, das gleichzeitig eines der Zentren der afrikanischen Subkultur ist. Die Afro-Sindhis und -Belutschen, auch “Shidi” genannt, sind die Nachfahren ost- und zentralafrikanischer Sklaven, die vor zwei Jahrhunderten über Sansibar und den Oman nach Karachi gebracht wurden. 

Auch wenn die afrikanischstämmigen Pakistanis längst ein Teil des Völkermosaiks der Metropole sind, werden sie “immer noch für minderwertig angesehen und verspottet”, oder wie es “der Professor”, einer von Frembgens frühen Kontakten in Baghdadi, ausdrückt: “Im Grunde sitzen wir zwischen allen Stühlen auf dem verdreckten Boden. Bildung ist für uns die einzige Möglichkeit, aus dem Elend herauszukommen.”  

In der Zwischenwelt

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der afrikanischstämmige Heiler Wali, den Frembgen über eine Kontaktperson am Sufi-Schrein von Lal Shahbaz Qalandar in Sehwan kennen lernte. Verankert in einer teils schamanischen, teils muslimischen Welt, hilft Wali seinen Patienten, Lösungen für allerlei Leiden und Erkrankungen zu finden. 

Die Menschen kommen etwa weil die Geschäfte schlecht laufen, weil sie unter Migräneattacken leiden, sich ihr Kinderwunsch nicht erfüllt oder weil die Tochter sich nichts merken kann. Wali ist ein Magier, der in der Zwischenwelt der Geister und Dschinns zuhause ist und mithilfe der Kräfte von Sufi-Heiligen als Vermittler zwischen den Sphären deren Einflüsse auf die Menschen neutralisieren möchte.  

Bei seinen Besuchen in den Jahren 2010 bis 2022 tauchte er immer tiefer in Walis Leben als Heiler ein: “Der Zauberbereich des Imaginären schien sich für mich aufzutun, die Welt der Geister, das Geheimnisvolle”. Manchmal nimmt “Pardesi Sahib” (Wasim, der Fremde) — wie er von den Einheimischen genannt wird — täglich an den Heilriten und rituellen Zusammenkünften teil. 

  Selbst Grundnahrungsmittel sind aufgrund der Inflation für viele Menschen kaum erschwinglich
Straßenszene in einem der Armenviertel von Karachi: Pakistaner aus der Mittel- oder Oberschicht betreten diese Stadtteile in der Regel nicht. Jürgen Frembgen hat sie intensiv erforscht. (Foto: Rafat Saeed/DW)

Dem Humanen begegnen

Dabei lernt der deutsche Wissenschaftler die Hierarchien verschiedener feinstofflicher Wesen wie Schutzheiliger und Hilfsgeister kennen, derer sich Wali bei seinen Heilungen bedient. “In Bambasa Street begegnen wir inmitten einer ursprünglich aus Afrika stammenden Bevölkerungsgruppe, deren Vorfahren noch Sklaven waren, eine noch nicht entzauberte Welt”, reflektiert Frembgen in seinem Buch. 

Wie auch bei früheren Feldforschungen nähert sich Frembgen seinen Protagonisten mit Respekt und menschlicher Wärme, verbleibt jedoch in seiner Rolle als stummer wissenschaftlicher Beobachter, der das Gehörte und Gesehene später aufzeichnet. “Pardesi Sahib ist ein Lehrling, der zuschaut”, sagt Wali einmal über seinen ausländischen Freund, um ihn fragenden Besuchern vorzustellen. Mit Präzision und Detailtreue beschreibt Frembgen dann in Bambasa Street die Gebets- und Opferrituale bei den Heiltreffen. 

Frembgens Forschung in Baghdadi ist entbehrungsreich, er schläft bei schwül-heißen Temperaturen in verwanzten Hotelbetten und lässt sich von Moskitos malträtieren. 

Eindrucksvoll beschreibt er aber auch das andere Karachi, die abgeschirmte Welt der Reichen. Als Frembgen sich einmal mit Pakistanis aus der Mittelschicht trifft und diesen von seinen Erkundungen berichtet, können sie kaum glauben, dass er es wagt, diese Gegenden der Stadt zu frequentieren. Sie selbst hätten nie auch nur einen Schritt nach Baghdadi gesetzt. 

Sie fragen Frembgen auch, ob er als Ethnologe, der die Kultur der schwarzen Bevölkerung erforscht, die Menschen nicht als “die Anderen” porträtiere und dabei eher Unterschiede herausstelle anstelle von Gemeinsamkeiten. 

Er entgegnet: “Das ist ein Dilemma, mit dem wir Ethnologen irgendwie versuchen umzugehen. Wir lieben das Besondere, das Eigentümliche, aber auch das Humane am Menschen. Und um dem zu begegnen, ist Baghdadi ein idealer Ort.”  

Wandler zwischen den Welten

Wohlhabende Pakistanis blicken skeptisch auf die religiösen Bräuche der unteren Schichten. Sie tun diese tendenziell als Aberglauben ab, wobei sie selbst mit ihrem eigenen Verhältnis zum Übersinnlichen ringen. Schließlich sind quasi-schamanische Riten wie das Ausräuchern von Zimmern mit wilder Steppenraute begleitet von Koranrezitationen auch in “aufgeklärten” Familien verankert.

Als Wandler zwischen den Welten begegnet der deutsche Ethnologe anders als die allermeisten Pakistanis Menschen aus allen Schichten der pakistanischen Gesellschaft. Somit hat er eine Brückenfunktion, die die Frembgen gut zu nutzen weiß. 

Frembgens Verbindung zu Pakistan begann vor über vierzig Jahren. Seine Begeisterung für die Region entstand, als durch eine Patentante angeheiratete afghanische Verwandte in sein Leben traten. Es folgten erste ethnologische Reisen an den Hindukusch. 

Die komplizierte politische Situation in Afghanistan trieb ihn dann nach ersten ethnologischen Reisen weiter ins benachbarte Pakistan, das er seit 1981 jährlich bereist.

Über die Zeit avancierte Frembgen zu einem der profiliertesten Kenner der 1947 gegründeten Nation: “Im Laufe der Jahre bin ich aufgrund meiner Erfahrungen in diesem Land zu einem Grenzgänger zwischen Ethnologie und Islamwissenschaft auf der einen und Literatur auf der anderen Seite geworden.” 

Ekstase-Tanz im Innenhof eines Schreins in Lahore, Pakistan
Land der Sufis: Kaum ein Land in jenem geographischen Raum, den wir gemeinhin als "islamische Welt“ bezeichnen, ist so stark von den Traditionen des Sufismus geprägt wie Pakistan. Ekstatischer Tanz im Innenhof des Schreins von Baba Schah Dschamal in Lahore. (Foto: Marian Brehmer)

Zwischen Literatur und Wissenschaft

Über die Jahre hat Frembgen das hybride Genre des halb-literarischen ethnographischen Buches im deutschsprachigen Raum etabliert. Seine Bücher zu pakistanischen Lebenswelten — egal ob über Pilgerfahrten, Musiknächte, die Begegnung mit lebenden Heiligen und das Leben in einer Stammesgesellschaft — zählen zur besten zeitgenössischen ethnologischen Literatur im deutschsprachigen Raum.  

Schon in früheren Publikationen hat Frembgen gezeigt, dass er die Balance zwischen akademischer Distanz und persönlichem, intensiven Erleben beherrscht: “Tatsächlich handelt es sich um ein Navigieren zwischen der bei Feldforschungen unbedingt notwendigen Erfahrungsnähe, mithin in radikaler Subjektivität, und – wenn möglich –dichten Teilnahme an Ritualen und anderen Ereignissen und dem Umstand, dass man als Wissenschaftler beschreibt und interpretiert”, sagt Frembgen. “Als Ethnologen geht es uns um Annäherungen an andere Kulturen, um eine Verständigung zwischen Menschen zu ermöglichen.” 

Kratzen an der westlichen Wahrnehmung

Diese Annäherung ist ihm in Bambasa Street bestens gelungen. Besonders wertvoll ist, dass Frembgen es nicht bei Beschreibungen des Fremden und Exotischen belässt, sondern aus dem Gesehenen und Erfahrenen Fragen ableitet, die kritisch an unserer westlichen Ontologie kratzen. 

Damit zeigt Frembgen, wie ein Ethnologe nicht nur aus dem Schatten einer eurozentristischen und exotisierenden Ethnologie heraustreten kann, sondern wie er seine Forschung in einen Spiegel verwandelt, der die Prämissen der rationalen Denkkultur des Westens hinterfragt. 

So reflektiert Frembgen im Kapitel “Pardesis Beobachtungen und Reflexionen” darüber, dass Menschen im Westen, die von Visionen oder Auditionen heimgesucht werden, oft in der Psychiatrie landen. 

Für die Arroganz und Besserwisserei der westlichen Perspektive findet er klare Worte: “Nicht wenige von uns würden Wali als Scharlatan, seine Fragesteller und Patienten als rettungslos abergläubisch, wenn nicht gar als geistesgestört ansehen, jedenfalls halluzinierend. Wir würden werten und beurteilen, gingen von Zufällen und Koinzidenzen aus, wo Wali Zusammenhänge erkennt und von der Wirkung übermenschlicher Wesen überzeugt ist. (…) Wie vermessen und arrogant, Menschen wie sie aus unserer Außenperspektive samt und sonders für dumm, verblendet oder psychotisch zu halten. Wie überheblich, ihre Wahrnehmung dieser Anderswelt nicht ernst zu nehmen. Was fällt uns nur ein, die Eigenständigkeit ihrer Sichtweise rationalistisch auflösen zu wollen?” 

Auch Pakistan durchläuft seit Jahren unter dem Einfluss von westlicher Kultur große Veränderungen. Auf die Frage, wie sich das in den letzten Jahrzehnten verändert habe, entgegnet Frembgen: “Wie wohl fast alle Länder dieser Erde, ist auch Pakistan in den Sog der Globalisierung geraten, mit dem der Verlust traditioneller Kulturen einhergeht. Mich schmerzt das rapide Verschwinden kultureller Traditionen ganz besonders. Schönheit ist in den Lebensäußerungen immer weniger zu finden. Doch trotz dieser ernüchternden Tatsachen sind die meisten Menschen warmherzig geblieben — und um dieses Humane geht es doch vor allem.”  

Marian Brehmer 

© Qantara.de 2024   

Jürgen Wasim Frembgen, Bambasa Street. Aufzeichnungen aus der Zwischenwelt einer Megacity, Schiler & Mücke 2023