Die Demokratie der Taliban

Im Bund mit den Dorfmullahs: Die Taliban haben Afghanistan im Sturm erobert. Der Sieg der Rebellen ist das Resultat einer sozialen Revolution in Afghanistan, schreibt Joseph Croitoru in seiner Analyse.

Von Joseph Croitoru

Das Szenario einer raschen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hatte der britische Journalist und politische Analytiker Anatol Lieven mit ziemlicher Genauigkeit schon vor drei Monaten in einem Aufsatz beschrieben: „Nach dem Abzug der Amerikaner könnte der Zusammenbruch des afghanischen Staates in den paschtunischen Gebieten irgendwann nicht nur sehr schnell, sondern auch ganz friedlich erfolgen, wenn paschtunische Soldaten und Polizisten einfach nach Hause gehen, während ihre Befehlshaber die Flucht ergreifen oder ihre eigenen Deals mit den Taliban machen.“

Ähnliches hatte sich, folgt man Lieven, der seine journalistische Tätigkeit als Korrespondent der Financial Times in Pakistan und Afghanistan begann, schon abgespielt, als das kommunistische Regime im Land 1992 zusammenbrach und die Mudschahedin die Macht übernahmen. Und ebenso geschah es, als die Taliban in den Jahren 1994 bis 1996 die Siedlungsgebiete der Paschtunen-Stämme überrollten und die Warlords der Mudschahedin entmachteten („An Afghan Tragedy: The Pashtuns, the Taliban and the State“ in: Survival. Global Politics and Strategy, Bd. 63, Heft 3, Mai 2021 / Taylor & Francis).

Die jetzige Machtübergabe an die Taliban ging sogar noch schneller vonstatten, weil die Rebellen versprachen, Sicherheitskräfte und Regierungsbeamte nicht zu belangen und ihr Versprechen bislang wohl im Großen und Ganzen auch gehalten haben. Lieven sieht in den Taliban eine genuin paschtunische Bewegung, die es in jüngerer Zeit verstanden hat, ihren Einfluss allmählich auch über ihr ursprüngliches Entstehungsgebiet im Süden und Südosten des Landes hinaus auszudehnen.

Dominante Rolle der Paschtunen

Die Paschtunen, die heute rund vierzig Prozent der afghanischen Bevölkerung ausmachen, haben in der politischen Geschichte des Landes immer wieder eine dominante Rolle gespielt. Es waren die Durrani-Stammeskoalitionen, die den Ton angaben und mächtige Dynastien an der Spitze verschiedener Staatsgebilde stellten – vom sogenannten Durrani-Reich (achtzehntes und neunzehntes Jahrhundert) bis hin zum Königreich Afghanistan unter Mohammed Zahir Schah (1933 bis1973). Zahir wurde von seinem Bruder Daoud Khan gestürzt, der bis 1978 die von ihm gegründete Republik Afghanistan regierte.

Führungsstruktur der Taliban in Afghanistan. (Grafik: DW)
Hierarchische Strukturen: Die Taliban sind streng hierarchisch organisiert. Oberster Chef ist seit 2016 Mawlawi Haibatullah Achundsada. Der religiöse Anführer ist die höchste Autorität in allen politischen, militärischen und religiösen Angelegenheiten. Unterstützt wird er durch drei Delegierte und einige Minister, die für die Bereiche Wirtschaft, Militär und Geheimdienst zuständig sind. Höchstes Ratgebergremium ist die sogenannte "Rahbari Schura," auch "Quetta Schura" genannt, mit 26 Mitgliedern.

Während das Gesellschaftsgefüge der Durrani durch hierarchische Strukturen bestimmt war, prägten die im Grenzgebiet im Südosten des Landes beheimatete Stammesgruppe der weit ärmeren Ghilzai, aus deren Reihen sich in den Neunzigerjahren die Taliban rekrutierten, eher egalitäre Beziehungsnetze – Lieven verwendet hier auch den Begriff „demokratisch“.

Die Ghilzai unterschieden sich auch im Hinblick auf die religiösen Führungsstrukturen von den Durrani. Denn anders als die religiösen Führer (Sayyids), auf die sich die Durrani-Könige zur Legitimation ihrer Regierungen stützten und die ebenfalls dynastische Linien bildeten, kamen die religiösen Autoritäten der Ghilzai aus einfachen, oft armen Verhältnissen. Sie beanspruchten auch nicht jene gewisse Aura des Heiligen, mit der sich die Sayyids umgaben, wobei sie miteinander bisweilen bis zur offenen Rivalität konkurrierten.

Bei den Ghilzai war Gruppendisziplin weit selbstverständlicher, was in Phasen des Kampfes gegen ausländische Invasoren im Rahmen eines Dschihad – wie zuletzt gegen die westliche Allianz – ein Vorteil war. Beim Ansehenszuwachs dieser früher gering geschätzten Dorfmullahs handelt es sich aus Lievens Sicht um nichts Geringeres als eine Revolution in der Geschichte der paschtunischen Stämme. Zu ihrem gestiegenen Status trug vor allem die Kooperation mit den Taliban bei, die mit Hilfe der Dorfmullahs ihren Einfluss mittlerweile auch in den entlegensten Ortschaften des Landes geltend machen können – was bisher keiner anderen Macht in der Geschichte Afghanistans wirklich gelungen ist.

Den kontinuierlichen Machtzuwachs der Taliban seit der amerikanischen Invasion 2001 führt Lieven auch auf ihre Fähigkeit zurück, zwei verbreitete Meistererzählungen – die stammesbezogene paschtunische und die islamische – zu verknüpfen. Durch die Etablierung ihres, wenn auch kurzlebigen, Islamischen Emirats Afghanistan (1996 bis 2001) waren die Taliban in die Lage versetzt worden, sich als Erneuerer der damals unterbrochenen jahrhundertealten Herrschaftstradition der Paschtunen zu gerieren. Nach 2001 verstanden sie es zudem, sich auch noch als führende Kraft im defensiven Dschihad gegen die westlichen Invasoren zu profilieren.

Mit dieser Mission trafen sie freilich auch bei säkularen Paschtunen auf breite Akzeptanz, gehört es doch zum Selbstverständnis dieser Stämme, dass sie sich, gerade auch vor dem Hintergrund der längeren kolonialen Interventionen in Afghanistan, niemals einer fremden Macht unterordnen wollen. Die Taliban sind aber nicht nur als Anführer im Kampf erfolgreich, bei dem es ihnen immer wieder gelang, sich – auch dies ohne Vorbild in der Geschichte der afghanischen Stammesaufstände – von enormen Verlusten zu erholen. Ihre Machtstellung nutzen sie auch geschickt, um als Schlichter in lokalen Streitigkeiten aufzutreten – eine Rolle, die früher den Führern von Stammeskoalitionen oder den Königen zukam. Die schwache, zerstrittene und als korrupt geltende letzte Kabuler Regierung konnte diese Rolle nicht ausfüllen.

Die Taliban haben die Kontrolle in Afghanistan übernommen. (Foto: REUTERS)
Sie selbst nennen sich "Schüler und Studenten" - so lautet die wörtliche Übersetzung des Wortes "Taliban". Der Begriff ist die paschtunische Pluralform des aus dem Arabischen stammenden Wortes "talib". Viele Taliban sollen in den 1990er Jahren religiöse Schulen in Afghanistan und Pakistan besucht haben, an denen eine extremistische Auslegung des sunnitischen Islams gepredigt wurde.

Die Taliban sind mehr als religiös motivierte fanatisierte Aufständische

Die Taliban vor dem beschriebenen Hintergrund nur als religiös motivierte fanatisierte Aufständische zu betrachten, hält Lieven für falsch. Dagegen spreche schon, dass sie sich während ihrer früheren Herrschaft – und danach – massiv für die Polio-Impfkampagne der Weltgesundheitsorganisation eingesetzt hätten. Gesprächen mit Taliban-Führern konnte Lieven außerdem entnehmen, dass man den früheren Fehler, die Al-Qaida zu unterstützen, auf keinen Fall wiederholen wolle. Vielmehr werde die Bekämpfung der im Land aktiven IS-Terrormiliz als eine der Voraussetzungen dafür angesehen, sich nach einem – mittlerweile nun erfolgten – Machtantritt in Kabul die finanzielle Hilfe des Auslands zu sichern, ohne die fast keine Regierung in Afghanistan auskam.

Zur Stabilisierung ihrer Herrschaft, führt Lieven weiter aus, müssten sich die Taliban zudem nicht nur mit den anderen größeren ethnischen Gruppen im Land (Tadschiken, Hazara, Uzbeken) arrangieren. Kompromisse wären bei den Taliban auch hinsichtlich der religiösen Agenda nötig, wobei davon auszugehen sei, dass diese weiter eine konservative islamische Haltung vorschreiben werde – wofür sie in den anderen Volksgruppen freilich durchaus Unterstützung finden dürften.

Zu einer ähnlichen Einschätzung sind die zwei indischen Politikwissenschaftlerinnen Anchita Borthakur und Angana Kotokey gelangt, die meinen, bei den Taliban einen ideologischen Wandel feststellen zu können („The Ideological Trajectory within the Taliban Movement in Afghanistan“ in: Asian Journal of Middle Eastern and Islamic Studies, Bd. 15, Heft 2, Mai 2021 / Taylor & Francis).

Heute, so lautet das Fazit der Autorinnen, strebe die Taliban-Bewegung die Übernahme der Macht in Kabul unter neuen Vorzeichen an. Ihre Führung habe sich erneuert und so seien aus der alten Bewegung die „Neo-Taliban“ hervorgegangen, die sich grob in zwei Fraktionen gliederten. Die liberalere präsentiere sich als Verfechterin des Friedens und damit als Alternative zu der von den Vereinigten Staaten unterstützten Kabuler Regierung. Sie sei inspiriert durch islamistische Bewegungen in der arabischen Welt und scheine eine Synthese zwischen Islam und Moderne anzustreben. Indizien dafür sehen die Autorinnen in der Öffnung gegenüber der digitalen Medienwelt sowie in Bekundungen, dass Verbote kontraproduktiv seien und die Taliban vom Weltgeschehen abschneiden müssten. Auch gebe sich das liberalere Lager weit offener gegenüber anderen ethnischen Gruppen im Land, was schon im April 2020 zur Ernennung eines Hazara-Schiiten zum Schattengouverneur in der nördlichen Provinz Sar-i Pul geführt habe.

Die Entwicklung der letzten Tage bietet Anhaltspunkte, die diese behauptete Tendenz bestätigen. Nach eigenem Bekunden will die Taliban-Führung eine inklusive Regierung bilden. Sie hat begonnen, Gespräche mit anderen Fraktionen zu führen. Ihre Erklärung von April 2020, man sei an einer freundlichen Zusammenarbeit mit allen benachbarten Ländern interessiert, wurde erneut bekräftigt.

Auch verfestigt sich mittlerweile der Eindruck, den Anatol Lieven aus Gesprächen mit Taliban-Kadern über den Umgang mit im Land operierenden radikalislamischen Terrororganisationen gewonnen hatte: Taliban-Sprecher betonen nun, man werde es keinesfalls zulassen, dass von afghanischem Boden aus Gefahr für andere Länder ausgehe.

Dass man einen internen Entwicklungsprozess durchgemacht habe, räumte auf der ersten Pressekonferenz der Organisation der bis dahin als Taliban-Sprecher fungierende Zabihullah Mudjahed ein. Kurz darauf wurde er zum Kultur- und Informationsminister ernannt.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2021

 

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