Wer sich selbst und andere kennt
Als in den 1970er Jahren die ersten west-östlichen Jazz-Grenzgänger gemeinsam experimentierten, vertraute man noch auf die reine Kraft der Klänge. Heute sucht man zunehmend Orientierung in religiösen, literarischen und philosophischen Texten. Von Alessandro Topa
Manfred Eicher, Gründer des renommierten Münchener Jazz-Labels ECM, hätte seine Freude daran gehabt, im Teheraner Entr'acte Café immer wieder auch Produktionen seines Hauses zu hören:
Musikenthusiasten hatten sich zuletzt den Mittwochabend als jour fixe auserkoren, um in dem Café, das die Schauspielerin Leila Hatami in der zweiten Etage eines Kinos auf der Jomhuri-Straße liebevoll eingerichtet hatte, ECM-Werke von Arvo Pärt, Jan Garbarek oder dem tunesischen Oud-Spieler Anouar Brahem vorgestellt zu bekommen.
Der Anklang des Jazzlabels ECM in Iran hat nicht nur historische Ursachen, war es doch 1996 eines der ersten, das – mittels der Buchhandlungskette shahr-e ketab – beginnen durfte, wieder westliche Musik zu importieren, sondern auch programmatische und kulturelle Ursachen:
Der oft melancholische Basissound von ECM versetzt wohl nicht nur eine Lieblingsbefindlichkeit vieler Perser in Schwingung; ganz generell hat auch ECM immer wieder orientalischer Musik in einem sehr weiten, nämlich bis Indien reichenden Sinne Gehör verschafft.
Der melancholische Sound von ECM versetzt wohl nicht nur eine Lieblingsbefindlichkeit vieler Perser in Schwingung, ganz allgemein hat auch ECM immer wieder orientalischer Musik in einem sehr weit reichenden Sinne Gehör verschafft.
"Der Orient" erobert den musikalischen Westen
In den Siebzigern war es der amerikanische Sitar- und Tabla-Studiosus Collin Walcott, der mit Musikern wie Jack DeJohnette und John Abercrombie die Energien des Jazz in die Formenwelt der Ragas fließen ließ, bevor der 1984 tragisch ums Leben gekommene Schüler Ravi Shankars zu Beginn der Achtziger Jahre mit Don Cherry und dem brasilianischen Percussionisten Nana Vascancelos einen Dialog etablierte, der schillerndste Weltmusik avant la lettre hervorbrachte.
Mit der prächtigen "Codona Trilogy" veröffentlichte ECM kürzlich drei Alben dieses ungewöhnlichen Trios wieder.
In den 1990er Jahren spielte dann etwa der tunesische Oud-Virtuose Anouar Brahem eine Reihe inspirierter Aufnahmen ein. Auf Alben wie "Thimar" reflektierte sich freilich auch die Internationalisierung des Jazz, sofern es nicht mehr Pioniere wie Walcott oder John McLaughlin waren, die Westlern 'den Orient' erschlossen, sondern vielmehr 'Orientalen', die nun selbstbewusst ihre Musikkultur in den Jazz einbrachten.
Eine neue Generation von Grenzgängern
Auf drei Alben stellt ECM nun eine neue Generation von Grenzgängern zwischen Orient und Okzident vor. Gemeinsame Merkmale dieser recht verschiedenen Konzepte west-östlicher Begegnung sind die tragende Rolle weiblichen Gesangs sowie der dezidierte Abstand zu experimenteller Hippie-Ästhetik.
Weder der urbane Jazz von Cyminology oder das Oriental-Jazz Musical Marc Sinans und Julia Hülsmanns, geschweige denn die spekulative Musik-Archäologie des norwegischen Komponisten Jon Balke und der Marokkanerin Amina Alaoui haben Zeit für ausufernde Improvisationen.
Es gilt nicht mehr, wie einst in den 1970er Jahren, das Abtasten, Entflammen und freudige Wiedererkennen der Musiker zu dokumentieren, sondern einen humanistischen Konsens multikultureller Gesellschaften zu artikulieren. Das unterscheidet das Ethos dieser Musik auch von dem utopischen Konstruktivismus der imaginären Folklore der letzten Dekade:
Wo man sich einst auf die Kraft der Klänge glaubte verlassen zu können, sucht man nach dem 11. September Orientierung in religiösen, literarischen und philosophischen Texten. Vielleicht gar Legitimation.
Luftiger Jazz mit viel harmonisch Moll
"Fasil", das Werk des deutsch-türkisch-armenischen Gitarristen Marc Sinan, der Pianistin Julia Hülsmann und des Librettisten Marc Schiffer will uns die Entwicklung Aishes, der jüngsten Frau Mohammads, näherbringen: "von der unschuldigen Schönheit zur engsten Vertrauten des Propheten, zur politischen Führerin, Feldherrin und weisen 'Mutter der Gläubigen'".
Aus musikästhetischer Perspektive ist die Frage nicht primär die, ob man dieses "Heroisierungs-Programm" zündend findet – es ist es nicht, wohl aber gibt es auf christlicher Seite genug nachzuholen, was das unbefangene Eintauchen in die großen Erzählungen der islamischen Vorstellungswelt betrifft –, sondern vielmehr die, wie es denn klingt.
Nun, solange nicht gesungen wird, hört man luftigen Jazz mit viel harmonisch Moll: elegant vom Hülsmann-Trio getragen und durch die spanische Gitarre Marc Sinans und die Viola Lena Thies' mit Tupfern aus Klassik und Moderne angereichert.
Sobald aber Yelena Kuljic singt, gerät diese Balance aus den Fugen. Das liegt nicht daran, dass sie keine starke Sängerin wäre, die Intonation und Timbres nicht unter Kontrolle hätte. Es liegt daran, dass Sinn und Klang der englischen Texte oft ins Musicalesque-Verkitschte des Sakro-Pop abdriften.
Schade, denn "Fasil" hält anspruchsvolle Lieder, originelle Instrumentierungen, einen inspirierten Flow und zuletzt auch die Frage bereit: Wäre es nicht inhaltlich und melodisch besser gewesen, beim Arabischen zu bleiben, um uns Aishe vorzustellen, zumal Koranpassagen und Hadithe ins Libretto eingeflossen sind?
Popmusikalische Redundanzen und Mut zur Stille
Auf diese Frage antworten die Berliner Protagonisten des neuen deutschen Jazz von Cyminology auf Farsi. Das Quartett um die Sängerin Cymin Samawatie verknüpft auf "As Ney" persische Lyrik und europäisches Kunstlied in einem feinmaschigen Gewebe aus äußerst durchdachtem Jazz mit viel Mut zur Stille.
Während bei Sinan/Hülsmann auch popmusikalische Redundanzen gekonnt und effektvoll Verwendung finden, herrscht bei Cyminology ein klassisches Formbewusstsein, dem so manche überraschend-einleuchtende Werkstruktur gelingt.
Samawatie macht kein Geheimnis daraus, als in Deutschland aufgewachsene Iranerin keine Muttersprachlerin im vollen Sinne zu sein, weshalb zuweilen Perser die Nase ob ihrer Aussprache rümpfen.
In ihrem Vortrag zum Teil selbstverfasster Texte ist sie dennoch auf sehr physische Weise mit Klang und Rhythmik jener Literatursprache verwachsen, die noch vor der ersten Jahrtausendwende in Samarkand entsteht und in der bald Dichterfürsten wie Khaiyam, Rumi und Hafez ihre mystischen Metaphern einweben sollten.
Auch wenn bei Samawatie zuweilen Intonationsmängel aufblitzen, fügen sich die Stücke ihres dritten Albums zu einer bewegenden Szenologie menschlichen Gestimmt-Seins, die im Gestus des Fragens über sich hinausweist.
Von einem fremden Geist geleitet
Womit wir bei der Metaphysik wären und über den Maghreb nach Al-Andalus eilen, um den west-östlichen Dialog in seinem Höhenflug hin zur unio mystica zu folgen.
Wenn Amina Alaoui am Ende des Albums "Siwan" mit "Toda ciencia transcendiendo" die Vertonung eines kontemplativen Gedichts des christlichen Mystikers und Gründers des Ordens der unbeschuhten Karmeliten Juan de la Cruz aus dem 16. Jahrhundert singt, dann hat man allerhand erlebt:
Man hat Poesie in arabischer, kastilischer und portugiesischer Sprache aus sieben Jahrhunderten gehört. Man hat in einer Klangkuppel geweilt durch deren Opaion das gleißende Licht des skandinavischen Ensembles für alte Musik Barokksolistene einfällt, das – von den Wirbeln eines iranischen und eines skandinavischen Perkussionisten rhythmisiert – an den Interferenzen des herausragenden algerischen Geigers Eddine M'Kachiche und des amerikanischen Trompeters Jon Hassell irisiert.
Ferner hat man erahnen können, wie christliche Spiritualität in einer von islamischer Wissenschaft, Religion und Kunst geprägten Kultur bereichert werden mag.
Vor allem aber hat man in Stimme und Vortrag Amina Alaouis – zumal wenn sie arios auf Arabisch vorträgt – das Gefühl, von einer anderen Sensibilität angerührt und einem fremden Geist geleitet zu werden. Das ist schön, denn wesentlich mehr, als uns aus der eigenen Haut fahren zu lassen, kann Musik nicht.
Platonischer Aufstieg des Eros
Die – rein imaginäre – Rekonstruktion einer arabisch-europäischen Musik zur Zeit des von 730 bis 1492 muslimisch beherrschten Iberiens, die Balke und Alaoui unternehmen, widmet sich näherhin in der Art eines platonischen Aufstiegs des Eros zunächst der Schönheit der Heimaterde, bevor der des anderen Geschlechts gehuldigt wird und zuletzt – alle Wissenschaft transzendierend – jene Gottes erhascht wird.
Wir stehen somit unter dem Signum religiöser Toleranz als Bedingung dieses Aufstiegs. Und in gewisser Weise ist das multikulturelle Projekt "Siwan", dieser neue west-östliche Diwan mit seinem stupend-transparenten Wohlklang der performative Beweis dafür, dass dieser Aufstieg, ganz im Sinne Goethes gelingen kann:
"Wer sich selbst und andere kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen."
Im Entr'acte Café werden die Teheraner diese neuen CDs leider nicht kennenlernen können. Nicht wegen der aktuellen Situation, sondern weil Kino und Café im November 2008 von der iranischen Hisbollah niedergebrannt wurden.
Alessandro Topa
© Qantara.de 2009
Don Cherry & Nana Vasconcelos & Collin Walcott, The Codona Trilogy, ECM 2033-35 (Universal)
Marc Sinan & Julia Hülsmann, Fasil, ECM 2076 (Universal)
Cyminology, As Ney, ECM 2084 (Universal)
John Balke & Amina Alaoui, Siwan, ECM 2042 (Universal)
Qantara.de
Die Berliner World-Jazz-Band Cyminology
Ein fein gewobener Stoff aus Mystik und Musik
Die deutsch-persische Sängerin Cymin Samawatie ist Kopf der Band Cyminology. Mit dem Quartett hat sie unter anderem die Texte des persischen Dichters Hafez und des Gelehrten und Lyrikers Omar Khayyam vertont. Ein Porträt von Lewis Gropp
Musik
Jazz aus Syrien
Hewar, "Dialog", nennt sich eine Gruppe junger syrischer Musiker, die Ende März in Köln zu Gast war. Der Name des Ensembles ist Programm: Hier treffen ganz unterschiedliche musikalische Stile und Künstlerpersönlichkeiten aufeinander. Das Ergebnis dieses Dialogs ist hörenswert. Wera Reusch stellt "Hewar" vor.
Portrait Dhafer Youssef
Der Kosmopolit
Sein ansprechender Gesangsstil, sein klares Spiel auf der Oud, seine verzaubernden, arabisch gefärbten Kompositionen, und eine Reihe von Fusion-Sounds rücken Dhafer Youssef ins Zentrum der aktuellen Elektro-World-Szene. Ralf Dombrowski stellt ihn vor.
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