Auf der Suche nach einem Neubeginn

Arbeit, Disziplin und nationale Einheit - das brauche Tunesien, sagte der künftige tunesische Regierungschef Ali Larayedh bei der Vorstellung der neuen Regierung. Allerdings läuft die Zeit gegen sie. Aus Tunis informiert Ute Schaeffer.

Sie soll nur bis Ende des Jahres im Amt bleiben, die neue tunesische Regierung. Dann soll es Neuwahlen geben. Und ihre Regierungsarbeit wird für den Kurs des Landes entscheidend sein: Wird Tunesien den türkischen Weg einschlagen und ein ziviler moderner Staat mit wirtschaftsliberalem Kurs und muslimischen Wertekanon werden? Oder wird das Land in Anarchie und Gewalt versinken, zum Rückzugsort für islamische Extremisten werden, gar ein schwacher Staat in direkter Nachbarschaft zu Europa?

"Unsere politische Führung verliert zuviel Zeit", urteilt der Chefredakteur der Tageszeitung Al-Sabah und Direktor des neuen TV-Senders Al-Janubia, Kamal Ben Younes. "Ständig wird nach einem Kompromiss gesucht."

Im Rückwärtsgang

Nun soll die neue Regierung es richten - und zwar schnell, denn dem Land läuft die Zeit davon. Die Arbeitslosenzahlen sind unverändert hoch, die Lebensmittelpreise steigen weiter und die Touristen bleiben aus - das Land befindet sich im wirtschaftlichen Rückwärtsgang.

Suad Abdelrahim, Foto: DW/Ute Schaeffer
Glaubt an die zügige Ausarbeitung einer neuen Verfassung als Schlüssel für einen politischen Konsens in Tunesien: Suad Abdelrahim, Abgeordnete der "Ennahda"-Partei im Übergangsparlament.

​​Misstrauen und Anspannung wachsen. Säkulare und religiöse Gruppen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Salafisten gewinnen an Boden. Unter Diktator Ben Ali wurden sie verfolgt und verschwanden in den Gefängnissen im Land.

Mit der Revolution kamen sie frei. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch dass diese Gruppen mit der um sich greifenden Enttäuschung in der Bevölkerung schnell wachsen, beobachtet der Journalist Salaheedin Jourchi seit längerem.

Hierfür  nennt er mehrere Gründe: "Unmittelbar nach der Revolution war der tunesische Staat schwach. Und das ist er bis heute. Das wurde auch von Akteuren von außen genutzt, um Extremisten im Land zu unterstützen und die moderaten Kräfte zu schwächen." Saudi-Arabien soll salafistische Gruppen in Tunesien finanzieren.

Tunesien als Spielball arabischer Nachbarstaaten

Eine stabile Regierung ist wichtig, damit das Land nicht zum Spielball arabischer Nachbarstaaten wird, welche den konservativen, manche den wahabitischen, Islam verbreiten wollen: "Die Revolutionen in der arabischen Welt haben die Ordnung in der ganzen Region durcheinander gewirbelt", sagt Salaheddin Jourchi.

"Deshalb mischen sich manche Akteure massiv in die Nachfolgefrage ein. Sie wollen die Nachfolgeregelungen nach dem Sturz der Diktatoren beeinflussen, konservativ-muslimische Kräfte stärken und liberale schwächen." Mit verheerenden Folgen für ein Land wie Tunesien, das über Jahre als weltoffen und modern galt.

Der wohl größte Schock in diesem Zusammenhang war die Ermordung des säkularen Oppositionspolitikers Chokri Belaid Anfang Februar. Bis heute sind die Hintergründe dieses von allen Seiten als "politisch" bezeichneten Mordes ungeklärt.

Für die Ennahda-Abgeordnete Suad Abdelrahim war die Ermordung von Belaid ein Wendepunkt: "Es war klar: Wir müssen nun sofort einen genauen Fahrplan verabschieden - einen klaren Plan, wann wir mit welchem Vorhaben fertig sein müssen. Deshalb glaube ich auch daran, dass wir nun die Ausarbeitung der Verfassung zügig abschließen."

Für eine Politik des Wandels

Ein klarer und zügiger Fahrplan - der wird auch über den Erfolg der neuen Regierung entscheiden. Eine Handvoll Regierungen hat sich in den zwei Jahren seit der Jasmin-Revolution an den zentralen Aufgaben versucht: Die Sicherheit im Land wieder herzustellen, rund 200.000 jungen Akademikerinnen und Akademikern eine Perspektive zu bieten. Und vor allem: endlich eine Verfassung auf den Weg zu bringen und Wahlen abzuhalten.

Beides war ursprünglich schon früher versprochen, nun soll es bis Ende des Jahres geschehen. Die neue Regierung kann sich angesichts der Ungeduld im Land sicher sein: Sie wird an ihren Ergebnissen gemessen, vor allem in den drei Schlüsselbereichen Sicherheit, Wirtschaft und politische Ordnung. Hier muss sich viel ändern - und die Veränderungen müssen im Alltag der Menschen ankommen.

Verlorene Glaubwürdigkeit

Salaheedin Jourchi, Foto: DW/Ute Schaeffer
"Die Ennahda ist aus einer Volksbewegung hervorgegangen. Aber es fehlt ihr an Kompetenz, an konkreter Programmatik - zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft", meint Salaheedin Jourchi, Journalist und Vizepräsident des tunesischen Menschenrechtsverbands.

​​Das wohl größte Problem der neuen Regierung - und zugleich der Demokratie als Modell - ist die tiefe Glaubwürdigkeitskrise, in welche alle Politiker im Land geraten sind. Umfragen zufolge wollen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten an der nächsten Wahl nicht teilnehmen - weil sie den politisch Verantwortlichen nicht trauen. "Dieser Mangel an Glaubwürdigkeit ist eine große Bürde", erklärt Journalist Salaheedin Jourchi.

Die tunesische Jasmin-Revolution hatte zu Beginn nicht Demokratie gefordert, sondern "Brot", "Gerechtigkeit" und "Würde". Sie rief nach sozialen Rechten und nach Arbeit. Doch auf diese Forderungen hat die Politik bis heute keine überzeugenden politischen Antworten. "Es droht in Tunesien echte Anarchie, wenn es nicht bald zu einer spürbaren wirtschaftlichen Erholung kommt", warnt Jourchi .

Aus Fehlern lernen

Tunesien hat zwar mehr als hundert Parteien - doch nur eine, welche wirklich in allen Regionen, in allen Städten und in unterschiedlichen sozialen Schichten verankert ist: die islamische Ennahda, stärkste Partei bei den ersten freien Wahlen im Oktober 2011. Sie hat sich mit der sozialdemokratischen Ettakol und der Mitte-Links-Partei Kongress für die Republik von Präsident Marzouki in einer Koalition zusammengeschlossen - eine beschwerliche Interessensgemeinschaft, die sich oft uneinig ist.

Diese "Troika" bietet zwar 109 Stimmen im Parlament auf und stellt damit die Mehrheit. Das heiße aber noch lange nicht, dass sie wirklich regierungsfähig sei, wendet Jourchi ein: "Die Ennahda ist aus einer Volksbewegung hervorgegangen. Aber es fehlt ihr an Kompetenz, an konkreter Programmatik - zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft." Deswegen hat die Ennahda in ihrer Regierungszeit massiv an Popularität eingebüßt.

Demonstranten protestieren gegen die Ennahda-Partei, Foto: AFP/Getty
Tunesien tief gespalten: Das nordafrikanische Land wird von einer schweren politischen Krise erschüttert, seit am 6. Februar der charismatische Oppositionspolitiker Chokri Belaid erschossen worden war.

​​Die Regierungsbildung zeigt, dass die Ennahda aus diesen Fehlern Konsequenzen zieht. Schon Ende Februar hatte sie ihren Anspruch auf die Schlüsselressorts im Kabinett aufgegeben. In der neuen Regierung werden diese nun durch ausgewiesene Experten wahrgenommen.

Der angesehene Untersuchungsrichter Lotfi Ben Jeddou muss sich als Innenminister nun vor allem mit der Aufklärung des Mords an dem Oppositionspolitiker Chokri Belaid befassen, der das Land in eine tiefe politische Krise gestürzt hatte.

Als neuer Justizminister muss der Rechtsprofessor Nadhir Ben Ammou die Justiz reformieren, die nach wie vor als Interessensvertretung des gestürzten Diktators Ben Ali gilt - und in vielen Fällen weder unabhängig noch gerecht agiert. Und der frühere UN-Botschafter Othman Jarandi wird Außenminister.

Nur das Amt des Regierungschefs selbst wird weiter durch die Ennahda besetzt. Ob aus der in der Jasmin-Revolution erstrittenen Freiheit in Tunesien stabile demokratische Strukturen werden, das liegt nun mit in der Hand der neuen Regierung.

Ute Schaeffer

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de