Wo die Weichen falsch gestellt wurden
Politische Grabenkämpfe, konfessionelle Ausschreitungen, wirtschaftliche Talfahrt: Wer in diesen Tagen auf der Suche nach positiven Nachrichten aus Ägypten ist, steht vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Der demokratische Übergangsprozess scheint festgefahren, Bilder von Gewalt und Chaos prägen die Berichterstattung über das Land am Nil.
Was für ein Gegensatz zur Aufbruchsstimmung und Euphorie unmittelbar nach dem Sturz des Langzeitdiktators Husni Mubarak! Damals, vor gut zwei Jahren, wähnten sich viele auf der Schwelle in ein neues Zeitalter - eines mit mehr Freiheit, mehr Rechten und genügend Brot für alle. Nun ist die Bevölkerung enttäuscht, nicht wenige verfluchen die Revolution. Was lief schief? fragen sich viele Ägypter.
Demokratie ohne Spielregeln
Zwei Institutionen werden mit den Fehlern und Versäumnissen des Übergangsprozesses besonders häufig in Zusammenhang gebracht: Militär und Muslimbruderschaft.
Diese waren es, die aus Sicht des politischen Analysten Emad Gad vom "Al-Ahram Zentrum" in Kairo gleich zu Beginn des Transformationsprozesses die Weichen falsch stellten:
Anstatt wie Tunesien, das Mutterland der Revolution, zuerst eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, drängten Armee und Islamisten auf frühe Parlamentswahlen – das Volk folgte ihrem Aufruf im März 2011 in einem Referendum.
Ägypten begann damit das Spiel mit der Demokratie, ohne die Spielregeln festgesetzt zu haben. Schlimmer noch, kritisiert Gad: Dieser Schritt habe die Spaltung der Gesellschaft beschleunigt. Die Polarisierung von Islamisten und Säkularen prägt seither den politischen Diskurs.
Die Anhänger der Muslimbruderschaft setzen auf das Gesetz des Koran
Die Muslimbruderschaft, deren Partei "Freiheit und Gerechtigkeit" bei der Parlamentswahl Ende 2011 fast 50 Prozent der Stimmen holte und deren Präsidentschaftskandidat Mohammed Mursi ein halbes Jahr später zum ersten zivilen Staatsoberhaupt am Nil gewählt wurde, habe von Beginn an auf die Karte Religion gesetzt, erklärt Gad und ergänzt: "Religion ist in Ägypten das einfachste Mittel, um Wählerstimmen zu bekommen. 40 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten, viele sind leicht zu beeinflussen." Für den Erfolg der eigenen Partei hätten die Islamisten den gesellschaftlichen Konsens geopfert.
Politik der Polarisierung
Auch der deutsche Ägypten-Experte Stephan Roll kritisiert die Muslimbruderschaft für ihre Politik der Polarisierung. Der Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin lässt aber auch an der Opposition kaum ein gutes Haar: "Die säkularen Kräfte wollen auf Augenhöhe mitregieren. Damit machen sie die Wahlergebnisse obsolet." Die Islamisten wiederum verstünden ihren Sieg an der Urne als Freibrief, um mit absoluter Macht zu regieren. "Beide Seiten offenbaren ein mangelhaftes Demokratieverständnis", sagt Roll.
Seit dem Erdrutschsieg der islamistischen Kräfte bei der Parlamentswahl kreist die politische Debatte in Ägypten fast ausschließlich um die Rolle der Religion in der Verfassung, in den Medien, in der Gesellschaft. Die Revolutionsforderung nach sozialer Gerechtigkeit wird dabei in den Hintergrund gedrängt, die drängenden wirtschaftlichen Probleme des Landes werden von den Politikern schlichtweg ausgeblendet.
Hier sieht Experte Roll eine der größten Schwierigkeiten des Übergangsprozesses: Der politischen Klasse sei es bislang nicht gelungen, unabhängig von den Grundsatzdebatten pragmatische Tagespolitik zu betreiben, sagt er. Ohne einen solchen Parallelprozess jedoch könne sich das Land nicht vorwärts bewegen.
Widerstand der "Felul"
Während die ägyptische Opposition die Schuld für den wirtschaftlichen Stillstand und die politische Blockade bei den Islamisten sucht, machen diese gerne die Überbleibsel des ehemaligen Regimes verantwortlich. Die sogenannten "Felul", die Anhänger des gestürzten Mubaraks, würden dem Fortschritt Steine in den Weg legen, heißt es.
Wie stark das alte Regime tatsächlich noch ist, darüber wird heftig gestritten. Politologe Emad Gad meint, das Erbe Mubaraks sei in Form von Korruption, Folter und Vetternwirtschaft zwar weit verbreitet; einen koordinierten Widerstand der Felul könne er jedoch nicht ausmachen. Er hält dies für eine "Ausrede der reformunwilligen Muslimbrüder".
Stephan Roll hingegen glaubt, dass unterschätzt werde, welchen Einfluss das alte System noch immer ausübe. Mubaraks Regime habe nicht nur aus zwei, drei Familien bestanden, sondern sei in Interessensgruppen der Wirtschaftselite, der Judikative oder dem Sicherheitsapparat fest verwurzelt.
Der Beinahe-Erfolg von Ahmed Schafik bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr – Mubaraks ehemaliger Ministerpräsident bekam im Stichduell mit Mursi 48 Prozent der Stimmen – kann als Beleg dafür gewertet werden. Die von den obersten Richtern des Landes angeordnete Auflösung des islamistisch dominierten Parlaments ebenfalls.
Der fehlende Versöhner
Das Misstrauen auf allen Seiten hat den Übergangsprozess am Nil beinahe zum Erliegen gebracht. Für einen Befreiungsschlag, so glauben viele, bräuchte es eine Persönlichkeit oder eine nationale Institution, die zwischen den Fronten als Versöhner auftreten könne. Jemand, der die "streitenden Kinder" an den Verhandlungstisch zurückhole, wie es Roll formuliert.
Die islamische Gelehrteninstitution Al-Azhar wäre für diese Rolle prädestiniert gewesen, ließ sich aber schon früh vor den Karren der Muslimbrüder-Gegner spannen. Da unter den Politikern kein ägyptischer Nelson Mandela in Sicht ist, blicken viele in der Bevölkerung auf das Militär als Retter in der Not.
Emad Gad hält das Hoffen auf ein Eingreifen der Armee für hochriskant: "Die Monate unter der Militärherrschaft unmittelbar nach Mubaraks Sturz waren eine Katastrophe", ruft er in Erinnerung. Die Generäle seien offensichtlich einzig daran interessiert gewesen, ihre Pfründe in die neue Ära hinüberzuretten.
Eine Gruppe Aktivisten gab kürzlich bekannt, eine Million Unterschriften für eine Rückkehr des Militärs gesammelt zu haben. Sollte die Armee tatsächlich ein politisches Comeback starten, wäre der demokratische Übergangsprozess Ägyptens beendet.
Markus Symank
© Deutsche Welle
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de