Für Freiheit und Reformen in Syriens Nordwesten
Die Menschen in der Region Idlib im Nordwesten Syriens gehen wieder auf die Straße. Auslöser der Proteste war der Tod eines Häftlings im Gefängnis - mutmaßlich aufgrund der Folter durch Sicherheitskräfte der Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Scham. Seine Familie hatte lange vergeblich versucht, Informationen über seinen Zustand zu bekommen. "Als wir schließlich im Februar erfuhren, dass er zu Tode gefoltert wurde, mussten wir auf die Straße gehen. Wir konnten doch nicht schweigen", sagt Hamed T. entschlossen.
Hamed T. - der eigentlich anders heißt - ist ein Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit der ersten Stunde. Gegen das Assad-Regime protestierte er bereits 2011, da war er gerade mal 17 Jahre alt. Jetzt ist für ihn in Idlib das Maß voll: Da ist zum einen der Foltertod im Gefängnis.
Außerdem ist nach Angaben der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte gegen 13 Zivilisten und Militärangehörige die Todesstrafe vollstreckt worden. Das erinnert zu sehr an die Vorgehensweise des Regimes von Machthaber Baschar al-Assad.
Hamed T. kommt eigentlich auch aus einer anderen syrischen Stadt. Im Nordwesten des Landes lebt er aber schon etliche Jahre - wie viele der hier ansässigen Menschen ist er Vertriebener im eigenen Land. Manche sind bereits zum zweiten, dritten oder vierten Mal geflohen.
Kampf für Freiheit und Reformen
An den meisten Freitagen gehen Männer und Frauen aller Altersgruppen zu Dutzenden, Hunderten und manchmal Tausenden auf die Straße - in Idlib-Stadt, Binnish, Darat Izza, Jisr al-Schughour, Atareb - überall im Nordwestens Syriens, wo die islamistisch-dschihadistischen Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) das Sagen haben. Auch verschiedene Berufsgruppen wie Lehrer, Polizisten oder Ingenieure haben sich den Protesten angeschlossen, um laut ihre Rechte einzufordern.
Die nordwestliche Region Idlib steht überwiegend unter der Kontrolle der HTS, die wiederum aus der islamistischen al-Nusra-Front hervorgegangen ist. Im Laufe der Jahre hat die HTS viele gegnerische Gruppen zerschlagen und ist so zum stärksten Player in der Region geworden, der von Rebellen und Islamisten kontrolliert wird. Und der Unmut der Menschen richtet sich genau gegen diese Gruppierung - und besonders gegen ihren Anführer Abu Mohammed al-Jolani.
Sie hätten ein ganzes Bündel an Forderungen, sagt Hamed T.: Die Folter in den HTS-Gefängnissen müsse beendet, die Gefangenen freigelassen werden, es brauche wirtschaftliche und politische Reformen. Am lautesten fordern die Demonstrierenden den Rücktritt des HTS-Anführers Abu Mohammed al-Jolani.
Abu Mohammed al-Jolani: Monopole und Klientelpolitik
Dessen Regierungsstil sei in den vergangenen Jahren immer mehr "personalistisch-diktatorisch" geworden, so Syrien-Experte André Bank vom Giga-Forschungsinstitut in Hamburg. Er habe auch die Verwaltung von Wirtschaft und Sicherheit monopolisiert.
Al-Jolanis autoritäre Herrschaft sei stark von Klientelpolitik und Verbindungen zu den verschiedenen HTS-Strömungen abhängig. "Hier spielen nicht nur militärischer Status und Geld eine Rolle, sondern auch Fragen der Herkunft, Familien- und Stammeszugehörigkeit." Die Menschen wünschten sich außerdem bessere Lebensbedingungen, so Bank.
Das Erdbeben im Februar 2023 traf Idlib besonders schwer. "Dadurch hat sich die ohnehin schon schwierige Versorgungslage für die rund 4,5 Millionen Menschen in der Region nochmals drastisch verschlechtert." Dazu komme eine internationale sogenannte "Donor Fatigue", eine Gebermüdigkeit, die dazu führe, dass viel weniger externe Hilfe in der Region ankomme.
Zuckerbrot und Peitsche zum Machterhalt
Um die Proteste gegen seine Herrschaft einzudämmen, verfolgt al-Jolani derzeit offenbar eine zweigleisige Strategie. Im März willigte er in eine Reihe von Reformen ein.
Dazu gehörte eine Generalamnestie für bestimmte Gefangene, eine neue Direktion für öffentliche Sicherheit, Wahlen für den Schura-Rat und eine Art Beratergremium aus Vertretern verschiedener Bürgergruppen. Seine Kritiker aber sagen, er habe viele dieser Zugeständnisse gar nicht umgesetzt.
Mittlerweile versucht al-Jolani, die Demonstrationen mit harter Hand zu unterdrücken. Seine Sicherheitsleute setzen Schlagstöcke und Tränengas ein. Sie errichteten Straßenblockaden gegen die Proteste und zusätzliche Checkpoints. HTS-Kämpfer patrouillieren verstärkt in den Protesthochburgen und verhaften immer mehr Menschen.
Vor wenigen Tagen drohte al-Jolani den Protestierenden: "Wir werden keine Personen, Versammlungen, Parteien oder Gruppierungen dulden, die der befreiten Region schaden wollen" - damit meinte er die von seinen HTS-Milizen kontrollierten Gebiete.
Idlib: Life among the ruins
Auch die Islamisten sind gespalten
Neben den wachsenden Straßenprotesten gibt es aber auch erhebliche Unruhen innerhalb der radikal-islamistischen Gruppe. Die autoritäre Herrschaft der HTS werde "von innen herausgefordert", sagt Syrien-Experte André Bank. Es könnte zu einer internen Spaltung kommen.
Auslöser dieser Spannungen war al-Jolanis Entscheidung, führende Mitglieder der HTS festnehmen zu lassen. Sein Vorwurf: Sie arbeiteten mit ausländischen Einrichtungen zusammen und tauschten sich mit anderen Parteien aus. Das rief so großen Widerstand hervor, dass al-Jolani schließlich gezwungen war, die Festgenommenen freizulassen.
Diese inneren Kämpfe der HTS könnten dazu führen, dass der eigentlich als besiegt geltende sogenannte "Islamische Staat" zurückkehrt, ebenso wie die Gruppierung Hurras ad-Din, eine Nachfolgerin von al-Kaida, befürchtet André Bank. "Kurzfristig profitiert al-Assad von den Auseinandersetzungen, ohne Frage. Gleichzeitig wissen die Menschen im Nordwesten Syriens auch, wer für einen Großteil ihres Leids verantwortlich ist - ein Überlaufen zum Regime in Damaskus ist also unwahrscheinlich." Derzeit gingen offenbar die Luftangriffe des Regimes am Rand des HTS-kontrollierten Gebiets weiter - und das destabilisiere die Region.
Lebendige Zivilgesellschaft in Idlib
Trotz der Drohungen und Repressionen gehen die Demonstrationen weiter. Im Vergleich zu früheren Protesten haben sie eine größere Reichweite, sie sind intensiver und oft gewaltvoller. Die aktuellen Proteste im Nordwesten Syriens zeigten zweierlei, sagt André Bank: Es gebe viele HTS-Anhänger, die kritisch gegenüber al-Jolani eingestellt seien. Und sie belegten, dass "auch weiterhin eine syrische Zivilgesellschaft existiert". Und die setze sich trotz des Krieges seit rund 13 Jahren noch immer für zentrale Forderungen der syrischen Aufstände von 2011 ein.
Einer dieser Unentwegten ist Hamed T. Sein Engagement und seine Unerschrockenheit symbolisieren den fortwährenden Kampf vieler Syrer für ihre grundlegenden Rechte - selbst in schwierigen Zeiten. Sie haben genug von der Politik der Gewalt. Er schwört: "Ich werde auch weiterhin für unsere Rechte auf die Straße gehen und demonstrieren."
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Omar Albam hat zu diesem Artikel aus Idlib beigetragen.