Der Chronist vom Bosporus
Konstantinopel, 19. November 1918: Bauchige Kriegsschiffe schieben sich durch den kalten Nebel, der über dem Bosporus liegt. Ihre gehissten Union Jacks machen der Welt unmissverständlich klar: "Der kranke Mann am Bosporus" ist besiegt, gemeinsam mit seinen Verbündeten, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Die neuen Herren über das seit langem zerfallende Reich heißen England, Frankreich und Italien.
Dabei hatte die Bevölkerung Konstantinopels, wie Istanbul im 19. Jahrhundert von den Europäern noch immer genannt wird, den Kriegseintritt auf den Straßen euphorisch und mit bunten Fahnen gefeiert. Doch schließlich bringen Krieg und Niederlage vielen von ihnen lediglich Leid, Entwurzelung, Vertreibung und sogar Vernichtung. Und der kosmopolitischen Ausnahmegesellschaft Konstantinopels, dem legendären bunten Treiben von Pera, ihren ersten Tod.
Eine schicksalshafte Wendung bringt das Kriegsende auch vielen tausend Deutschen, die in dem bunten Völkergemisch an dem Ufern des Bosporus' eine neue Heimat gefunden haben. Als die Siegermacht Großbritannien eine deutsche Einflussnahme fürchtet, beordert sie ihre Ausweisung. Die Deutschen müssen ihr "Kospoli", wie einige von ihnen ihre Heimat liebevoll nennen, verlassen. Es ist das Ende des ersten Kapitels deutscher Präsenz am Bosporus.
Friedrich Schrader - einer dieser "Türkeideutschen"
Einer dieser "Türkeideutschen", wie sie sich selber bezeichnen, ist der Orientalist und Journalist Friedrich Schrader. Geboren 1865 in Sachsen-Anhalt, studiert er Philologie, Orientalistik und Kunstgeschichte und promoviert in Indologie. Um am Amerikanischen Robert College deutsche Sprache und Literatur zu unterrichten, zieht er 1892 nach Istanbul.
Hier lebt er in dem damals kaum bebauten Stadtteil Bebek auf der europäischen Seite des Bosporus' gemeinsam mit seiner ersten Frau Pauline – sie stirbt 1902 und wird auf dem protestantischen Friedhof in Feriköy begraben – seinem Sohn Wolfgang und seiner zweiten Frau Fannitsa, einer gebürtigen Jüdin aus Bulgarien.
Während seiner Istanbul-Jahre verfasst Schrader Aufzeichnungen, die heute als persönliche, mit der wohlgesinnten Haltung ihres Verfassers durchströmte Zeitdokumente zu lesen sind. So beschreibt er die Stimmung innerhalb der deutschen Expat-Community nach Kriegsende in seinem 1919 veröffentlichten Buch Eine Flüchtlingsreise durch die Ukraine, indem er seine spektakuläre Flucht von Istanbul nach Berlin darstellt:
"Der Waffenstillstand war also da und in dem Vertrag lautete der 19. Artikel: "Die deutschen und österreichisch-ungarischen Untertanen sind binnen Monatsfrist auszuweisen. […] Und wie sehr daher auch die Stimmung zwischen Furcht und Hoffen schwankte, es wurde immer klarer, dass die Entente von ihrer Forderung der Ausweisung der Deutschen und auch der österreich-ungarischen Untertanen nicht ablassen werde."
Doch zuvor ist Schrader – neben einflussreichen Deutschen wie Paul Lange, Hofkapellmeister am osmanischen Hof – mit der kulturellen Elite Istanbuls vernetzt, kennt Schriftsteller und Dichter wie Tevfik Fikret und übersetzt ihre Werke ins Deutsche. Nach einem einjährigen Zwischenaufenthalt in Baku mit seinem Sohn Wolfgang kehrt er nach Istanbul zurück und gründet 1908 die deutsch-französische Tageszeitung Osmanischer Lloyd.
Die Zeitung richtet sich an die deutschsprachige Expat-Community und das wirtschaftlich dominierende frankophon-levantinische Publikum im vielsprachigen Istanbul, wie sich Schraders Sohn Wolfgang in Aufzeichnungen aus dem Jahr 1979 erinnert:
"Im Herbst 1908 in die NEUE TÜRKEI zurückgekehrt übernahm Vater die Deutsche Tageszeitung gleichen Namens, oder wie dieses Blatt dann hieß: OSMANISCHER LLOYD und mit dem französischen Teil Lloyd Ottoman, denn Französisch war, neben dem Türkischen die Sprache in Konstantinopel-Pera geworden."
Istanbul-Erzählungen aus dem Alltag
In seinen feuilletonistischen Artikeln beschreibt Schrader das alltägliche Leben, etwa die "kleinen Knaben und Mädchen, die hier unter der Aufsicht des braven Hodscha in die Geheimnisse des 'Elif Be' eingeweiht wurden." Heute sind seine Artikel in dem Sammelband Konstantinopel im Vergangenheit und Gegenwart digital frei zugänglich und wurden auch ins Türkische übersetzt.
Doch Friedrich Schrader ist auch politisch engagiert. Er pflegt den Kontakt zur politischen Elite der Jungtürken, die er im Kern unterstützt, deren Minderheitenpolitik er aber deutlich kritisiert, ebenso wie die Haltung Deutschlands, unter anderem dafür, den kulturellen Austausch nicht hinreichend zu fördern.
Friedrich Schraders Beschreibungen, die er bis zu seinem Tod 1922 in Berlin verfasst, reihen sich ein in die Istanbul-Erzählungen anderer Europäer wie einer Lady Montagu des 18. oder eines Pierre Loti des 19. Jahrhunderts. Und doch stechen sie durch ihren packenden Schreibstil, ihren Realismus und das große Wissen ihres Verfassers hervor. So lässt sich dem von den türkischen Medien als "Freund der Türken" bezeichneten Friedrich Schrader nicht vorwerfen, einen Orient zu beschreiben, wie es ihn nie gab, wie es der türkische Dichter Nazım Hikmet in Bezug auf Pierre Loti tat.
Heute verwaltet Jochen Schrader den Nachlass aus Büchern, Notizbuchaufzeichnungen und Fotos seines Urgroßvaters Friedrich und seines Großvaters Wolfgang Schrader "Mein Großvater hat wie viele ältere Menschen immer wieder dieselben Geschichten erzählt, wir waren damals einfach zu uninteressiert, mal nachzuhaken", erzählt er. Jetzt hält Jochen Schrader Vorträge über seine Familiengeschichte, etwa über den Kampfeinsatz seines Großvaters bei der Schlacht von Gallipoli.
Während zuletzt Diskussionen über Flüchtlingsdeals, die Inhaftierungen von Deutschen in der Türkei und Waffenexporte die deutsch-türkischen Beziehungen belasteten, beleuchten die Texte Schraders einen weniger bekannten Aspekt im Verhältnis beider Länder und erinnern – auch in Anbetracht der zunehmenden Einwanderung von Akademikern, Künstlern und Journalisten aus der Türkei nach Deutschland seit dem Putschversuch 2016 – an ein fast vergessenes Kapitel deutscher Migrationsgeschichte.
Ceyda Nurtsch
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