"Ich, der Syrer"
Das berühmte Gemälde "Der Kuss" von Gustav Klimt ergießt sich in leuchtendem Goldgelb über die grauschwarze, von Schüssen durchlöcherte Fassade eines ehemaligen Wohngebäudes in Damaskus: Dieses Bild fand Anfang 2013 unter dem Titel "Freedom Graffiti" per Kurznachrichtendienst Twitter weltweite Verbreitung.
Viele glaubten damals, dass tatsächlich jemand einen Straßenzug in Syrien mit der provokanten Kuss-Szene bemalt hätte. Doch es handelte sich um eine Fotomontage des syrischen Künstlers Tammam Azzam. Das "Freedom Graffiti" ist ein Teil seines Langzeitprojektes "Syrian Museum".
Der 1980 geborene Tammam Azzam spezialisierte sich während seines Kunststudiums in Damaskus auf Malerei. "Ich habe in den letzten Jahren viele neue Techniken ausprobiert. Unter anderem habe ich mit gefundenen Objekten experimentiert. Aber am liebsten arbeite ich nach wie vor mit Acryl oder Ölfarbe und Leinwand", erzählt der zurückhaltend wirkende Künstler.
Die syrische Revolution hat das Leben und die Arbeit von Tammam Azzam völlig umgekrempelt. Nur wenige Wochen nach Beginn der syrischen Revolution im Frühjahr 2011 erhielt er einen Einberufungsbefehl zur regulären syrischen Armee. Tammam lebte und arbeitete zu jenem Zeitpunkt in Damaskus.
Flucht ins Exil
"Mir war sofort klar, dass ich da nicht hingehen würde", sagt Azzam, dessen Familie aus dem in Südwestsyrien gelegenen Suweida stammt und der zur Religionsgemeinschaft der Drusen gehört. "Ich wollte nicht auf meine Landsleute schießen müssen." Azzam reiste nach Dubai und ließ sich dort vorerst nieder. "Einfach war das nicht. Auf einen Schlag hatte ich kein Atelier mehr, keine Arbeitsmaterialien, nichts. Aber ich wollte unbedingt weiter künstlerisch arbeiten. Also habe ich die Materialien genutzt, die mir zur Verfügung standen: den Computer und digitale Bilder."
Seit seiner Umsiedlung nach Dubai produziert Tammam Azzam digitale Collagen und Grafiken, die ihn binnen kürzester Zeit weit über die arabische Welt hinaus international bekannt gemacht haben. Vor allem die seit 2012 entstehende Serie digitaler Kunstwerke mit dem Titel "Syrian Museum" erregte globale Aufmerksamkeit.
Das wiederkehrende Bildmotiv sind zerstörte syrische Wohngebäude: Orte, die einmal Schutz, Wärme und Intimität boten, liegen in Trümmern, mit aufgerissenen, geborstenen Wänden und Räumen, in die jedermann hineinsehen kann.
Tammam Azzam montiert in die schwarz-weiß-grauen Ruinenfotos kontrastreiche farbige Ausschnitte aus weltbekannten Gemälden. Die berühmten orangeroten Figuren von Matisse tanzen in ovaler Formation auf Schuttbergen; Südseeschönheiten von Gauguin sitzen in einem Flüchtlingslager und schauen versonnen vor sich hin. Mona Lisas Lächeln mitten in einem Alptraum aus Verwüstung.
Ein Gefühl der absoluten Ohnmacht
Maximale Kreativität trifft maximale Zerstörung? "Vielleicht", sagt Tammam Azzam. "Das kommt auf Ihren Blick an." Der Künstler will Realitäten zeigen, wie er sie sieht, nicht erklären. "Ja, ich bin Syrer, aber ich bin niemandes Sprachrohr. Ich spreche als Künstler für mich. Ich möchte, dass die Betrachter irritiert sind, dass sie Fragen stellen. Vielleicht existiert diese bunte Fassade tatsächlich irgendwo? Und was war Syrien eigentlich vor diesem Krieg? Wir dürfen nicht vergessen, welche immensen Kulturschätze Syrien besaß, die teilweise schon zerstört sind oder deren Existenz bedroht ist."
Tammam Azzam hat mit seiner Familie in Dubai zumindest vorerst einen sicheren Ort zum Leben und Arbeiten gefunden. Doch die Zerstörung und das millionenfache menschliche Leid Syriens sind immer präsent, und damit auch das Gefühl der absoluten Ohnmacht.
"Ich bin durch die syrische Revolution als Künstler international bekannt geworden. Die Beziehungen zwischen westlichen und arabischen Künstlern haben sich durch den sogenannten Arabischen Frühling insgesamt sehr verbessert, wir werden jetzt wahrgenommen", so die Überzeugung Tammam Azzams. "Aber letztlich sind wir als Künstler ohnmächtig. Gut, ich schaffe ein Werk und mache eine künstlerische Aussage. Aber für die Menschen in Syrien ändert sich dadurch nichts."
Manchmal fühle er sich wie gelähmt: "Wie kann man sich mit Kunst beschäftigen, wenn in Syrien an einem Tag mehr als 200 Menschen getötet werden? Wir sollen als Künstler die Wirklichkeit herausfordern, aber angesichts der aktuellen Ereignisse und der Politik hat die Kunst eigentlich keine Chance."
Dennoch wolle er sich positionieren, erklärt Tammam Azzam. Eine andere Serie von Fotomontagen, die ebenfalls zum „Syrian Museum“ gehören, zeigt ein aus dem Zusammenhang gerissenes, isoliertes, ausgebombtes syrisches Gebäude. Es wird von einem riesigen Strauß bunter Luftballons hoch in der Luft gehalten. Träumerisch-entrückt und zugleich bedrohlich schwebt der zerschossene Klotz mal über dem Parlament in London, mal neben den 2001 zerstörten Zwillingstürmen von New York.
"Verzweiflung ist die einzige Wahrheit"
"Wenn die Welt nicht nach Syrien kommt, und nicht auf Syrien schaut, dann kommt Syrien eben in die Welt", sagt Tammam Azzam. "Viele Menschen aus Syrien haben keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren können. Nicht nur ihr ehemaliges Zuhause liegt in Trümmern. Auch den geographischen Ort gibt es nicht mehr. Er existiert nur noch in der Phantasie."
Tammam Azzams Collagen sind vielschichtig und hintergründig. Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass auch die internationalen Schaltzentralen der Macht vom Untergang bedroht sind. "Die Großmächte haben eine Chance nach der anderen verpasst, das Morden in Syrien zu stoppen", konstatiert Tammam Azzam. "Sie befinden sich in einer tiefen moralischen Krise."
Was denkt der Künstler über einen möglichen Wiederaufbau Syriens? Tammam Azzam schüttelt den Kopf. Er sehe aktuell kein Ende der Kampfhandlungen und keinen Anlass für Optimismus oder Zuversicht. "Verzweiflung ist die einzige Wahrheit."
"I, the Syrian" ("Ich, der Syrer"), war Anfang 2014 in London und im Libanon als eigenständiges Ausstellungsprojekt zu sehen. Bis zum Sommer 2014 zeigt Tammam Azzam einzelne Arbeiten aus dem Projekt im Rahmen von Ausstellungen in Nordamerika, Asien und Europa. Nachdem er in Dubai ein neues Atelier eingerichtet hat, will der Künstler sich in Zukunft wieder verstärkt der Malerei widmen.
Martina Sabra
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Mehr über Tammam Azzam sowie über engagierte Kunst und Kultur aus Syrien: siehe unter anderem die mehrsprachige Internet-Seite Creative Memory of the Syrian Revolution ("Das kreative Gedächtnis der syrischen Revolution"). Das Projekt wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung und vom Französischen Kulturinstitut in Beirut unterstützt.