Die Türkei am Scheideweg

Demonstranten halten ein Transparent mit Pikachu darauf. Ein Demonstrant trägt eine Pikachu-Maske.
Immer mittwochs und samstags ruft die CHP zum Protest auf – das Pokémon Pikachu ist zum Widerstandssymbol geworden. (Foto: Picture Alliance / abaca | E. Ilker)

Die Festnahme von Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu im März hat eine Protestwelle ausgelöst. Egal, ob die Forderung nach Freilassung und Neuwahlen Erfolg hat: Die türkische Gesellschaft zeigt sich mit neuem Gesicht.

Von Ceyda Nurtsch

Alles begann mit einem Video, das viral ging: Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu bindet sich eine Krawatte um und erzählt in die Kamera, wie am frühen Morgen Hundertschaften der Polizei zu ihm nach Hause kamen, um ihn festzunehmen. 

Der Vorwurf: Terrorismus-Unterstützung – welcher kurz darauf erst einmal fallengelassen wurde – und Korruption. Einen Tag zuvor hatte ihm die Universität Istanbul wegen eines vermeintlich unrechtmäßigen Hochschulwechsels sein Diplom aberkannt – eine Notwendigkeit, um in der Türkei als Präsident kandidieren zu dürfen. 

Das Ausmaß der Massenproteste, mit denen die Menschen in den Städten auf die Festnahme reagierten, hat wohl alle im Land überrascht, auch die CHP selbst. Seit dem 19. März gehen immer wieder Zehntausende auf die Straße – in den ersten Wochen täglich, mittlerweile jeden Mittwoch in Istanbul und jedes Wochenende in einer anderen Stadt, selbst an Orten, die als Hochburgen der Regierungspartei AKP galten, wie zuletzt in Samsun an der Schwarzmeerküste.

„Recht, Gesetz, Gerechtigkeit”

Versammlungsverbot, Tränengas, Wasserwerfer, Inhaftierungen – nichts schreckt die Demonstrierenden ab, die altersübergreifend und unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung in ihrer Forderung „Hak, Hukuk, Adalet” zusammenkommen: „Recht, Gesetz und Gerechtigkeit“. An prominenter Stelle stehen dabei die jungen Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die Erdoğan in seinem Gesellschaftsprojekt gerne als „religiöse Generation“ hätte heranwachsen sehen wollen. 

Doch die Festnahme des stärksten Mannes der CHP, der Gründungspartei der Republik, ist für die Generation Z, die keinen politischen Führer außer Erdoğan erlebt hat, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Besonders die Perspektiven der Gen Z haben sich in den letzten Jahren verengt. „Nepotismus“, geben sie in Umfragen an, sei eines der größten Probleme ihres Landes. Viele, besonders Akademiker*innen, schließen sich dem Braindrain an und verlassen das Land.

Mit dem Rücken zur Wand sehen viele heute keinen anderen Weg als die Flucht nach vorn. 300 Personen saßen im April über die Feiertage zum Zuckerfest in Untersuchungshaft. „Vollkommen absurd“, erklärte die Anwältin Bedia Büyükgebiz gegenüber dem Nachrichtenportal Medyascope angesichts der Beschuldigungen, die gegen sie erhoben wurden: „Teilnahme an illegalen Demonstrationen“ und „Verschleierung des Gesichts“ – aus Angst vor Gesichtserkennungssoftware –, was eigentlich gar nicht mit einer Haftstrafe geahndet wird.

„Ein Putsch gegen den Willen der Nation”

„Die türkische Gesellschaft zeigt sich heute mit einem vollkommen neuen Gesicht“, sagt der Politikwissenschaftler Berk Esen von der Bilkent-Universität in Ankara im Gespräch mit Qantara. Demographie und Bildung spielten dabei eine ausschlaggebende Rolle. „Erstmals sind 85 Prozent der Bevölkerung städtisch, so viel wie nie zuvor in der Geschichte der Republik. Die jungen Leute haben eine höhere Schulbildung als ihre Eltern, machen sich aber mehr Sorgen um ihre Zukunft.“

Früher hätten gesellschaftliche Kategorien wie Religionszugehörigkeit oder Ethnie eine größere Rolle gespielt, so Esen. „Heute spüren alle den Druck der Regierung im ganzen Land gleichermaßen, in ihrem Alltag, ihrer Ausbildung. Sie alle sind von Arbeitslosigkeit, der schlechten Wirtschaft und den schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt in gleicher Weise betroffen.“ 

Zumindest İmamoğlu und die Istanbuler Stadtverwaltung kamen den Menschen etwas entgegen, etwa mit Transportvergünstigungen. Jetzt vernetzen sich die jungen Leute und gehen auf die Straße als Reaktion auf ihre konkreten Probleme.

Viele fühlen sich bei der Protest- und Boykottwelle an die Gezi-Proteste 2013 erinnert. Tatsächlich ist auf einigen Plakaten zu lesen: „Bei Gezi waren wir noch Kinder. Jetzt sind wir erwachsen geworden.“ 

Doch der Vergleich hält nur bedingt stand. Längst ist die AKP nicht mehr so stark wie damals. Seit 2018 kann sie ihre politische Mehrheit nur in Koalition mit der MHP sichern. Auf Kommunalebene wird das Land seit den Wahlen im März 2024 mehrheitlich von der CHP regiert. 

Und wenn heute der CHP-Vorsitzende Özgür Özel von einem „politischen Putsch gegen den Willen der Nation“ spricht, so ist das der Versuch, das jahrzehntelang von Erdoğan besetzte Narrativ vom „Vertreter des Volkwillens“ zurückzuerobern.

15 Millionen haben sich solidarisch gezeigt

„Die Gezi-Proteste wurden vor allem von CHP-Anhänger*innen getragen, entlang der Polarisierungslinien, die die AKP vorgab”, sagt Berk Esen. Dagegen seien die heutigen Proteste weitaus umfassender, mit Menschen aus allen Gruppen der Gesellschaft, auch konservativen und nationalistischen. Denn die Wirtschaftskrise, die hohen Wohn- und Lebensmittelkosten, die Inflation und die Arbeitslosigkeit betrifft sie alle. 

Human Rights Watch bewertet die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters als jüngstes Beispiel dafür, dass die Justiz als Waffe eingesetzt wird, um einen führenden Oppositionspolitiker von der politischen Bühne zu entfernen. Das denkt auch ein Großteil der Bevölkerung, wie Umfragen belegen. Rund 15 Millionen Menschen gaben ihre Solidaritätsstimme für die Freilassung von İmamoğlu. Das ist rund jeder Fünfte in der Türkei. 

Analysten sehen die Proteste als Resultat von Erdoğans gescheitertem Plan, seinen Hauptrivalen als Kriminellen darzustellen und einen Machtkampf innerhalb der CHP zu provozieren. Stattdessen vereinigte sich die zerstrittene CHP-Spitze hinter ihrem Vorsitzenden Özel, und unter ihrem Dach alle, die gegen das Regime sind. 

„Nur noch dem Namen nach eine Demokratie”

Die Künstlerin Özge Samancı beobachtet die Entwicklungen in ihrem Heimatland aus den USA, wo sie lebt und arbeitet. Ihre letzte mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Graphic Novel „Evil Eyes Sea“ handelt von zwei Studentinnen, die im Istanbul der 90er Jahre in einer Atmosphäre von politischer Korruption, religiösem Druck und wirtschaftlicher Instabilität beim Tauchen auf einen Kriminalfall stoßen. 

Die Parallelen zu heute sind nicht zu übersehen. „Obwohl die politischen Figuren des Romans fiktiv sind, geht es im Kern der Geschichte um ein Leben inmitten politischer Hoffnungslosigkeit. Jeder, der die 23 Jahre AKP-Herrschaft in der Türkei miterlebt hat, kennt diese Hoffnungslosigkeit sehr gut“, so die Künstlerin, deren Buch bald auch auf Deutsch erscheint im Gespräch mit Qantara.

Die Repressionen erinnern sie an die Zeit nach dem Militärputsch 1980. „Wir leben in einer Zeit, in der Menschen ins Gefängnis kommen, nur weil sie sich dem Regime widersetzen. Studierende, Journalisten, Künstler und Wissenschaftler werden inhaftiert, und niemand an der Macht wird zur Rechenschaft gezogen. Während die Wirtschaft zusammenbricht, wird die Regierung immer repressiver, getrieben von der Angst, ihre Autorität zu verlieren. Dem Namen nach ist es eine Demokratie, aber es fühlt sich eher wie eine Monarchie an“, so Samancı.

Sie fügt hinzu: Genauso wichtig wie dass sich Menschen aus allen Gruppen der Gesellschaft auflehnen, sei, dass junge Leute ihre Bildung nicht vernachlässigen. Das spiele in die Hände der Populisten. Denn gebildete Menschen wählten in der Regel keine Führer, die „ihre Macht zur Schau stellen, lügen, die Wahrheit verdrehen und ständig ein 'Ich, ich, ich'-Narrativ propagieren“, so die Künstlerin.

„Ein autokratisches System mit kompetitiven Elementen”

Für den Politikwissenschaftler Esen ist die Türkei schon lange ein autoritäres System mit kompetitiven Elementen. Für ihn steht das Land an einem Scheideweg. Sollte die Opposition einknicken oder scheitern, würde das autoritäre Regime stärker werden. Daran würden auch die für 2028 angesetzten Wahlen nichts ändern. 

Oder aber die Opposition finde Wege, den gesellschaftlichen Druck aufrechtzuhalten, bis die Angstmauer durchbrochen ist. Dann würden die Studierenden an den Universitäten randalieren, die Menschen auf die Straße gehen, protestieren und weiter regierungsnahe Firmen boykottieren. Doch Esen fürchtet, dass die Regierung den Druck immer weiter erhöht, um die Proteste abzuwürgen.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich der von oben herab zu etablieren versuchte Status langfristig nie halten konnte. Bislang gehen die Proteste weiter, ungeachtet der Schikanen und der Gewalt der Polizeikräfte. Jüngst haben sie auch die Gymnasien erreicht, wo Schulkinder gegen die Suspendierung ihrer Lehrer wegen Teilnahme an den Demonstrationen protestieren.

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