Ein Land in der Identitätskrise
Coğrafya kaderdir — “Geographie ist Schicksal” — lautet eine bekannte türkische Redewendung. Der vom arabischen Historiker Ibn Khaldun stammende Satz ist ein geflügeltes Wort, das Türken mit einer gewissen Resignation in den Mund nehmen, wenn sie über die Verhältnisse in ihrem Land reflektieren und die unruhige Beziehung dieser Nation zu sich selbst beschreiben. Dazu gibt es reichlich Gelegenheit, denn kaum ein anderes Land hat in den letzten hundert Jahren eine so dynamische und gleichzeitig von Rückschlägen geprägte Zeit durchgemacht.
Die türkische Republik tritt nun im Oktober in ihr zweites Jahrhundert. Ein guter Grund also, die jüngere Geschichte des Landes einmal unter die Lupe zu nehmen. In ihrem bei Fischer erschienenen Buch “Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan” hat sich die Journalistin Çiğdem Akyol dieser Aufgabe gestellt. Auf 400 Seiten und in fünf Kapiteln zeichnet Akyol den holprigen Entwicklungsprozess der Türkei kenntnisreich und detailliert nach.
Das erste Kapitel widmet Akyol erwartungsgemäß dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, seiner Persönlichkeit und politischen Ideologie, welche die Türkei über Jahrzehnte geprägt haben.
“Atatürk hat in einer christlich dominierten Welt einen vollkommen souveränen muslimischen Staat gegründet und den Siegermächten des Ersten Weltkriegs erfolgreich die Stirn geboten”, schreibt Akyol über den Vertrag von Lausanne, der im Juli 1923 die Unabhängigkeit der Türkei besiegelte und den Weg für die Gründung der Republik freimachte: “Um Mitternacht verkünden 101 Kanonenschüsse die Geburt des neuen Staates. Damit ist die Türkei das erste islamische Land, das die Staatsreform einer Republik annimmt.”
Das Land umgekrempelt
Akyol charakterisiert den Staatsgründer, der sich daran machte, das Land in kürzester Zeit nach seinen Vorstellungen umzukrempeln.
“Während die Säkularisierung in Westeuropa ein langwieriger Prozess mit Fortschritten und Rückschlägen ist, setzt der ungeduldige Atatürk den Wandel rücksichtslos innerhalb weniger Jahre durch. (…) Doch während in Westeuropa die Umwälzungen von unten nach oben erfolgen, wird in der Türkei der Umbau von oben verordnet.”
Ausführlich beschreibt Akyol die Wurzeln jener Spaltung des Landes (siehe Titel des Buches), die sich geradezu archetypisch bis in die Gegenwart zieht.
Schließlich hatte die Vision Atatürks von einem Land auf Augenhöhe mit Europa wenig mit der Lebensrealität von großen Teilen der Bevölkerung zu tun.
Atatürks verwestlichter Stil stand im Widerspruch zu den religiösen Werten der Mehrheit. Einschneidende Veränderungen wie die gewaltsam verordnete Sprachreform, die — wie Akyol zeigt — einer rassistischen Logik folgte, waren für viele Türken geradezu traumatisch und führten zu einer tiefgreifenden kulturellen Entwurzelung.
“Die Republik aber ist auf Zwang gegründet — und nach der Gründung endet der Zwang nicht. Die arabisch-islamischen Wurzeln werden jäh abgeschnitten, stattdessen sollen die Bürger plötzlich wie in Paris leben — und zwar möglichst ohne zurückzuschauen oder etwas zu hinterfragen.”
Deutlich wird beim Lesen des Buches immer wieder, wie der Versuch der kemalistischen Elite, die Religionspraxis einzudämmen oder zu verdrängen, zu Gegenreaktionen führte — ob in der Figur des volksnahen und religionsbetonten Ministerpräsidenten Adnan Menderes, der letztlich am Galgen endete, bei der Erstarkung islamistischer Parteien in den neunziger Jahren oder letztlich beim beispiellosen Erfolg des Recep Tayyip Erdoğan.
So werden dem Leser, der in der hiesigen Medienlandschaft gewohnt ist, wie die Türkei auf Erdoğans Politik reduziert wird, größere Zusammenhänge vor Augen geführt. Ein solches Verständnis für dieses Land, das sich in einer andauernden Identitätskrise befindet, ist äußerst wichtig, da es allzu schnellen Urteilen vorbeugt.
Umfangreiche Quellenkenntnis
Neben dem chronologischen Narrativ, der auf Akyols umfangreicher Quellenkenntnis beruht, enthält jedes Kapitel einen Hintergrundteil, der wiederkehrende Themen der türkisch-republikanischen Geschichte aufgreift. Im ersten Kapitel ist dieser Teil der Kurdenfrage gewidmet, jenem ungelösten Problem, das aus Atatürks radikalem Verständnis von Türkentum erwuchs.
Minderheiten hatten in dieser Staatsideologie von Anfang an kaum Platz. Historische Informationen reichert Akyol hier mit biografischen Anekdoten aus dem Schaffen der kurdischstämmigen Sänger Ahmet Kaya und Aynur Doğan an.
Der Bezug auf solche persönliche Schicksale bringt immer wieder Abwechslung ins Buch, das leicht verständlich geschrieben ist. Positiv ist auch, dass Akyol häufig O-Töne von Journalisten, Aktivisten und Künstlern einbaut.
Dass das Führen dieser Interviews alles andere als einfach war, beschrieb die Autorin in einem Gespräch mit dem Literaturhaus Berlin.
Die Unzuverlässigkeit von Gesprächspartnern, aber auch die Schwierigkeit, in einem angsterfüllten Klima über heikle Themen zu sprechen, machten ihre Arbeit zu einer Herausforderung.
Dabei lässt Akyol auch Stimmen aus regierungsnahen Kreisen in ihr Werk einfließen, wie etwa jene des außenpolitischen Experten Kahraman Halisçelik. Diese Ausgewogenheit macht das Buch nicht nur glaubwürdig, sondern setzt es von der allgemeinen hiesigen Türkei-Berichterstattung ab.
Glaubwürdig durch Ausgewogenheit
Dennoch blickt auch Akyol von außen durch die deutsche Brille auf die Türkei. In einem Interview des Schweizer Fernsehens beschrieb sie ihre Versetzung als Korrespondentin nach Istanbul als “puren Zufall”, lagen ihre beruflichen Schwerpunkte doch zunächst in Osteuropa, China und später im Libanon.
Çiğdem Akyol wuchs als Kind zweier Migranten im Ruhrgebiet auf, studierte Osteuropäische Geschichte und Völkerrecht in Berlin und Moskau und arbeitete als Korrespondentin in Istanbul. 2016 erschien ihr erstes Buch “Erdogan: Die Biografie”. Inzwischen lebt Akyol in der Schweiz und arbeitet dort als Reporterin für internationale Themen bei der “Wochenzeitung”.
Manchmal wird diese Blickrichtung von außen bemerkbar. Der zum Teil abergläubischen und orthodox-verqueren Islam-Auslegung der Diyanet-Behörde, der Akyol einen Hintergrund-Teil widmet, stehen in der Türkei zunehmend kritische Gruppen von Muslimen gegenüber, die sich etwa mit dem Erbe von islamischer Wissenschaft und Mystik auseinandersetzen. Sie kommen im Buch etwas zu kurz.
Das gilt auch für den Sufismus, dessen Einschränkung durch Atatürks Schließung der mystischen Orden Akyol nur in einer Randbemerkung zum ländlichen Islam erwähnt. Sufismus ist in der heutigen Republik zu einer wichtigen intellektuellen und spirituellen Kraft geworden. So ist die Bruchlinie zwischen säkular und religiös zwar eine wichtige für die Türkei, aber mitunter gehen hinter diesem Narrativ die sehr wohl existierenden Zwischentöne verloren.
Besonders gut gelingt Akyol die Differenzierung, wenn sie in einem Unterkapitel über die Kopftuchdebatte — die sowohl in der Türkei als auch in Deutschland meist anhand von Klischees geführt wird — zwei Feministinnen zu Wort kommen lässt. Die eine entschied sich dafür, das Kopftuch abzunehmen und kritisiert, dass sie mit der Kopfbedeckung immer wieder in Schubladen gesteckt wurde. Die andere Feministin trägt das Kopftuch weiterhin, wehrt sich aber gegen die Vereinnahmung von Kopftuchträgerinnen durch die Regierung.
Letztlich bleibt beim Leser der Eindruck eines hochkomplexen Landes hängen, das immer wieder vor Zerreißproben steht. Dazu gesellt sich auch eine gewisse Bewunderung für die Resilienz und das Selbstbewusstsein einer Nation, die trotz aller “Geburtsfehler”, die sie bis heute plagen, am Rand von Europa ihren ganz eigenen Weg gegangen ist.
Akyols Buch ist ein wertvoller Beitrag, nicht nur um die Türkei zu verstehen, sondern auch um die inneren und äußeren Spannungsfelder zu begreifen, die den Verlauf ihrer Geschichte bestimmen.
© Qantara.de 2023
Çiğdem Akyol, Die gespaltene Republik. Die Türkei von Ataturk bis Erdogan, S. Fischer Verlag 2023