Prediger der Straße
War's das jetzt? Die Frage werden sich die Protestteilnehmer stellen, die Mitte Januar tagelang in Pakistans Hauptstadt der Kälte trotzten, um gegen Korruption und für einen Politikwechsel zu demonstrieren. Zehntausende waren dem Aufruf des Religionsgelehrten Tahir ul-Qadri gefolgt, der ihnen in Anlehnung an die ägyptische Revolution einen eigenen Tahrir-Platz versprochen hatte.
Was war das? Diese Frage treibt zweifellos noch viel mehr Pakistaner um. Kurz zuvor aus dem Ausland zurückgekehrt, hatte Qadri über eine massive Medienkampagne eine beachtliche Gefolgschaft mobilisiert. Hintermänner und Finanzierung seiner Aktivitäten blieben indes unklar. Doch ebenso rasch wie er aufmarschiert war, beendete Qadri den Protestmarsch durch eine Vereinbarung mit der Regierung, die kaum mehr als den ohnehin vorgesehenen Ablauf bis hin zu landesweiten Wahlen im Frühjahr festlegte.
Der 61-jährige Qadri vertritt eine vom Sufismus geprägte und in Pakistan verbreitete Strömung des sunnitischen Islam. Diese steht im Gegensatz zur rigorosen, durch Saudi-Arabien propagierten Auslegung, die häufig die Schlagzeilen in und über Pakistan bestimmt. Seit 2006 lebt er in Kanada und leitet eine Organisation für interreligiösen Dialog und Bildung. Im März 2010 erregte Qadri mit einer Fatwa gegen Terrorismus auch die Aufmerksamkeit westlicher Medien.
In seiner politischen Kampagne attackierte der talentierte Redner die grassierende Korruption und Steuerhinterziehung unter Pakistans Politikern. Qadri forderte sofortige Neuwahlen sowie eine vorherige Überprüfung aller Kandidaten. Damit stieß er auf offene Ohren: Eine Demonstration in Lahore brachte am 23. Dezember mehrere hunderttausend Menschen auf die Straße. Nach Islamabad kam zwar nicht die versprochene Million, doch erlebte die Hauptstadt einen der größten Proteste der letzten Jahrzehnte.
Regierung in Misskredit
Die Bevölkerung macht vor allem die derzeitige Regierung unter Präsident Asif Zardari für die desolate Lage im Land verantwortlich: Inflation, steigende Lebensmittelpreise, tägliche Stromausfälle und Gasknappheit. Hinzu kommen Gewalt gegen religiöse und ethnische Minderheiten sowie der andauernde Feldzug militanter Islamisten in der pakistanisch-afghanischen Grenzregion. Laut einer Umfrage des Washingtoner Pew Research Center vom Mai 2012 bewerteten nur 24 Prozent der befragten Pakistaner die Rolle der Regierung positiv.
Problematisch an Qadris zentraler Forderung war indes, dass dieses Jahr ohnehin Wahlen anstehen. Steht der genaue Termin fest, muss laut Verfassung die Regierung zuvor aufgelöst und eine von allen Seiten akzeptierte Übergangsregierung gebildet werden. Trotz ihrer mageren Bilanz wäre die 2008 gewählte Regierung Zardari die erste der 65-jährigen Geschichte Pakistans, die eine komplette Amtszeit durch einen regulären Urnengang beendet.
Immer wieder hat das mächtige Militär zivile Regierungen entweder direkt aus dem Amt geputscht oder aber über Strohmänner abgelöst. Entsprechend alarmierend tönte Qadris Erklärung, allein zwei Institutionen Pakistans verdienten Respekt: Armee und Justiz – beide Gegner der Regierung. So weckte er Befürchtungen, das Militär stünde hinter dem bestens organisierten Protest und suche nun eigene Leute für eine Interimsregierung in Stellung zu bringen.
Wie ein abgekartetes Spiel wirkte auch ein Haftbefehl der Justiz gegen den unter Korruptionsverdacht stehenden Premierminister Raja Pervez Ashraf. Er wurde just in dem Moment publik, als Qadri vor seinen Anhängern über die Regierung herzog. Der oberste Richter des Landes führt einen erbitterten Stellvertreterkrieg gegen Präsident Zardari. Letztes Jahr musste der damalige Premier Gilani seinen Platz räumen, nachdem ein Verfahren gegen ihn angestrengt worden war.
Beendet hat den Protestmarsch letztlich die Haltung der politischen Parteien. Unisono beharrten alle Vertreter des politischen Spektrums auf einer ordnungsgemäßen Durchführung der Wahlen. Zugleich kritisierten sie Qadris Vorgehen als undemokratisch. Schließlich einigten sich Regierungsvertreter mit dem Geistlichen auf eine gemeinsame Erklärung, vor allem wohl deshalb, um diesen einen ehrenhaften Ausweg zu bieten und die Menschenmassen friedlich aufzulösen.
Ein abgekartetes Spiel?
Die ausgehandelten fünf Punkte waren wenig revolutionär. Die Auflösung des Parlaments soll nun spätestens bis zum 16. März erfolgen, so dass Anfang Mai Wahlen stattfinden können. Allein das Mitspracherecht bei der Zusammensetzung der Übergangsregierung, das Qadri sich ausbedungen hat, stellt durchaus einen Erfolg dar für einen frisch gekürten Oppositionsführer, der nicht einmal im Parlament vertreten ist.
Der plötzliche Einklang zwischen der Regierung und dem Religionsgelehrten ließ sogleich neue Spekulationen durch die pakistanischen Medien geistern: War vielleicht alles von vornherein abgesprochen? Die Regierung hätte die inszenierte "Revolution" souverän überstanden und einen Mann kooptiert, der vorgeblich den Willen der Straße verkörperte. Kaum eine Intrige scheint im opaken Machtgefüge Pakistans zu absurd.
Mehr als deutlich machen die Ereignisse allerdings die hohe Unzufriedenheit der Bevölkerung. Viele Protestler schienen aus Provinzstädten und der unteren Mittelschicht zu kommen. Die Krise untergräbt den mühsam erarbeiteten Aufstieg dieser Menschen. Ein Dutzend privater Fernsehsender informiert sie täglich mit atemloser Berichterstattung über Missstände im Land. Die von Regierung und Militär geduldeten Drohnenangriffe der USA auf angebliche Terroristen im Grenzgebiet verletzen zudem das Empfinden nationaler Souveränität vieler Pakistaner.
Ein Erlöser außerhalb der politischen Klasse
Politikverdrossenheit, Perspektivenmangel und gekränkter Nationalstolz bilden eine explosive Mischung, die leicht instrumentalisiert werden kann. Dies zeigen nicht nur die wütenden Mobs gegen das Mohammed-Schmähvideo vom vergangenen September. Der Erfolg von Figuren wie Qadri, die sich gleichsam als Erlöser außerhalb der politischen Klasse stellen, geht ebenfalls auf solche Frustrationen zurück.
Auch der frühere Kricketstar Imran Khan will an der Spitze seiner "Gerechtigkeitsbewegung" die Korruption bekämpfen und schlägt gern nationalistische Untertöne an. Khan hat die Organisation indes über Jahre hinweg aufgebaut und ist zu einem beachtenswerten Herausforderer der traditionellen Parteien geworden.
Mit einer über soziale Medien geführten Kampagne und Auftritten im Stil von Popkonzerten setzt er auf einen Faktor, der bei den nächsten Wahlen durchaus Gewicht haben dürfte: die pakistanische Jugend.
Fast die Hälfte der registrierten 85 Millionen Wähler ist jünger als 35 Jahre, viele wählen zum ersten Mal. Werden sie die herkömmlichen Strukturen politischer Loyalität aufbrechen, die meist auf Klientelismus und Patronage basieren?
Jenseits von Populismus und Hinterzimmerpolitik hängt die Legitimität der zukünftigen Regierung – und damit der Verlauf von Pakistans demokratischer Entwicklung – vor allem davon ab, ob Parteien und Politiker glaubhaft die Hoffnungen und Sorgen der jungen Wähler ansprechen können.
Marcus Michaelsen
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de