Politik des Zwiespalts
"Yurtta sulh, cihanda sulh" - "Frieden zuhause, Frieden in der Welt". So lautet eines der bekanntesten Zitate von Mustafa Kemal (Atatürk), dem pro-westlichen und säkularen Gründer der modernen Türkei. Dass sich nun ausgerechnet die seit 2002 allein regierende moderat-islamistische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Premierminister Recep Tayyip Erdoğan dieser äquivoken Maxime verschrieben hat, mutet zunächst widersprüchlich an.
Unstrittig ist, dass die Türkei unter der AKP-Regierung zu eine der weltweit dynamischsten Volkswirtschaften aufgestiegen ist sowie einen Reform- und Demokratisierungsschub erlebte, der den Beginn der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union (EU) nach sich zog.
Gleichzeitig aber ist es in den vergangenen Jahren zu einer intendierten Stärkung der sunnitischen Identität und Moralvorstellungen sowie zu einer zunehmend autoritären Regierungsführung unter Ministerpräsident Erdoğan gekommen, die – jenseits der Ereignisse um den Gezi-Park – zu einer besorgniserregenden Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit geführt hat. Doch auch in Bezug auf die Minderheiten gibt es noch Probleme – vor allem die Kurden, Christen und Aleviten pochen auf eine weitere Ausweitung ihrer Rechte.
Instrumentelles Demokratieverständnis
Der Zick-Zack-Kurs der Regierung macht deutlich, dass die AKP kein liberal-demokratisches Verständnis von Demokratie und Demokratieförderung hat, sondern eher ein instrumentelles. Konkret: Demokratie und Demokratieförderung werden nicht als (universelle) Norm verstanden, sondern als Mittel, um vorrangig eigene Präferenzen durchzusetzen.
Dabei fällt auf, dass es zu einem interessanten Paradigmenwechsel in der Türkei gekommen ist: Unter Atatürk wurden Verwestlichung und Fortschritt synonym verstanden, der Islam als Modernisierungshindernis angesehen. Unter Erdoğans AKP jedoch fungiert der Islam als Modernisierungsmotor, wobei es zu einer intellektuellen Trennung zwischen Verwestlichung und Entwicklung gekommen ist – Letztere wird vor allem im sozio-ökonomischen Sinne verstanden und befürwortet, die kulturalistische Verwestlichung hingegen abgelehnt.
Nun könnte man meinen, dass die Erfolge der AKP die Partei nicht nur im Zuge des "Arabischen Frühlings" zu einem Vorbild für islamistische Parteien gemacht hat, sondern aus der Religion durchaus Werte resultieren können, schließlich rekurrieren auch christdemokratische Parteien auf den Einfluss ihrer Religion auf Programmatik und Handeln.
Die "defekte Demokratie"
Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Türkei eine sogenannte "defekte Demokratie" ist. Ein Kernproblem liegt darin, dass Religion – im Prinzip schon seit den osmanischen Sultan-Kalifen – durch Staat und Politik als Instrument missbraucht wird. Ein Beispiel: Es war ironischerweise das säkular-kemalistische Militär, das nach dem Putsch von 1980 mit dem ideologischen Vorschlaghammer der "türkisch-islamischen Synthese" die umfassendste Re-Politisierung des Glaubens in der jüngeren Vergangenheit betrieb.
Der aseptische Kemalismus wurde damals um eine metaphysische Komponente ergänzt, d.h. der Islam wurde – in Einklang mit der während des Kalten Kriegs vom NATO-Partner USA unterstützten "green fence"-Politik – ideell und materiell gefördert und fungierte als sozial-integratives "Gegengift" vor allem für die diversen linken, alevitischen undkurdischen Protestbewegungen.
Doch mit der intendierten Nationalisierung des Islam, also der Propagierung eines "türkifizierenden" sunnitischen Staatsislams, kam es zu einer nicht-intendierten Islamisierung der Nation. Gepaart mit der neoliberalen Marktöffnungspolitik des gläubigen Premiers Turgut Özal von der Mutterlandspartei (AnaP) und dem Zufluss des "grünen Kapitals" aus dem Ausland erlebte die klein-asiatische Provinz in den 1980ern einen nie dagewesenen Boom, der die Entstehung des "Anatolischen Tigers" bzw. der "Anatolischen Bourgeoisie" zur Folge hatte. Sie ist die Antipode zum kemalistischen (Groß-)Bürgertum und artikuliert als Rückgrat der AKP selbstbewusst eigene innen- und außenpolitische Präferenzen.
Doch die Geister, die die Kemalisten gerufen hatten, wurden sie dann nicht mehr los. Die AKP ist demokratisch legitimiert, sie gewann die letzten drei Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit – ein Ergebnis, von dem viele Parteien im Westen nur träumen können.
Gleichwohl fällt die Bilanz zwiespältig aus: Einerseits konnte Erdoğans Partei den tiefgreifendsten Demokratisierungsprozess und Wirtschaftsaufschwung in der Geschichte der Türkei herbeiführen. Andererseits sah die AKP sich trotz ihrer Ein-Parteien-Dominanz nicht in der Lage, dem Land eine liberal-demokratische Perspektive zu eröffnen: Nach wie vor ist der türkische Nationalismus die stärkste Strömung, nach wie vor ist das Land von Zentralismus und Personenkult geprägt, der als wichtiger erachtet wird als beispielsweise Parteiprogramme oder innerparteiliche Demokratie.
Ankaras außenpolitische Mediator-Rolle
Freilich prägen Mentalität und Weltanschauung der AKP auch die neue werteorientierte türkische Außenpolitik. Sie sieht im Kern eine Mediator-Rolle für Ankara als "ehrlicher Makler" sowie eine "zero problem"-Politik mit den Nachbarstaaten vor.
Diese pro-aktive Außen- und Entwicklungspolitik ist u.a. dadurch möglich geworden, dass die ressourcenarme Türkei heute von den politischen Zwängen des Kalten Kriegs befreit ist und auf die zunehmende Globalisierung reagiert. Und im Gegensatz zu den kemalistischen Vorgänger-Regierungen hat die AKP den Willen und auch die (finanziellen) Mittel, in der Philosophie einer Zivilmacht eine friedens- und stabilitätsfördernde Außen- und Entwicklungspolitik - gemäß dem Motto "politischer Wandel durch Handel" - zu postulieren.
Darüber hinaus versucht die türkische Regierung, im Zuge der globalen Mächteverschiebung das Land in der Riege des aufstrebenden "globalen Südens" zu positionieren. Zudem hat die AKP im Rahmen ihrer Doktrin der "strategischen Tiefe" seit Mitte 2000 die Beziehungen zu den anti-westlichen und autoritären Regimen Russland und Iran ausgebaut und gleichzeitig die strategische Partnerschaft mit Israel suspendiert.Andererseits ist Ankara weiterhin in das westliche Normen- und Interessendispositiv eingebunden und verhandelt mit der EU über den Beitritt. Dieser Spagat ist zweifelsohne schwierig und offenbart Interessantes, dass nämlich der Aktions- und Reaktionsradius der Türkei im Rahmen ihrer Partnerschaft mit NATO und EU – wie der aktuelle Umgang mit dem Assad-Regime in Syrien oder den Muslimbrüdern in Ägypten zeigt – eher normativ eingeschränkt denn ausgeweitet wird.
Dennoch steht, um im Gegenzug mehr Handlungsspielraum zu bekommen, ein türkischer Austritt aus der NATO nicht zur Disposition, schließlich ist das die einzige internationale Organisation, in welcher Ankara direkten (Blockade-)Einfluss auf Washington hat.
Fehlender gesellschaftlicher Frieden
In Einklang mit Atatürks eingangs erwähnter Losung sei darauf hingewiesen, dass ein Land nur dann glaubwürdig Frieden und Stabilität nach außen diffundieren kann, wenn es selber innergesellschaftlichen Frieden hat.
Doch davon kann in der Türkei keine Rede sein. In diesem Kontext verstrickt sich die neue werteorientierte Außenpolitik in Widersprüchlichkeiten und Glaubwürdigkeitsverlusten – etwa dann, wenn die AKP-Regierung beispielsweise einseitig die Rechte der Sunniten anspricht, aber den Mantel des Schweigens über die Rechte der Christen oder der Schiiten in sunnitisch regierten Ländern wie Ägypten, Bahrain oder Jemen hüllt.
Glaubt man, trotz der ganzen Turbulenzen, einigen pathetischen Kommentatoren in der pro-islamischen türkischen Presse, so ist es Allahs Wille, dass die Türkei wieder Ordnungsmacht wird und ihr osmanisches Vermächtnis aufgreift.
Doch in Bezug auf den göttlichen Beistand und die eigene Hybris sollten es die Türken eigentlich besser wissen: Es sei daran erinnert, dass die Osmanen trotz erdrückender militärischer Übermacht 1683 nicht in der Lage waren, die Residenz- und Machtzentrale der Habsburger Monarchie zu erobern. Offenbar wollte Allah nicht, dass Wien fällt.
Cemal Karakas
© Qantara.de 2014
Dr. Cemal Karakas ist Politikwissenschaftler und arbeitet für die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Zu seinen Themenfeldern zählen die Türkei, der politische Islam, Fragen der europäischen Integration sowie externe Demokratieförderung in Theorie und Praxis.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de