Rückkehr zum Pragmatismus
Für die internationalen Beziehungen der Türkei waren die beiden letzten Jahre eine Achterbahnfahrt – von einer "Keine Probleme mit den Nachbarn"-Politik hin zu einer zunehmenden außenpolitischen Isolation. Gegenwärtig sind die Beziehungen Ankaras zu praktisch all seinen Nachbarn im Süden angespannt. Doch mittlerweile scheint sich ein Ausweg aus der Situation anzudeuten.
"Die Türkei versucht, dem Teufelskreis zu entkommen", behauptet Murat Bilhan, ehemaliger türkischer Botschafter und stellvertretender Direktor des Think Tanks Tasam. "Die Rhetorik ist eine deutlich andere, und man ist bemüht, ein Klima der Versöhnung mit allen Nachbarn herzustellen. Die Entscheidungsträger in der Türkei sind sich bewusst, dass sie in der Vergangenheit Fehler begangen haben."
In der Vergangenheit verfolgte die islamistisch geprägte Regierungspartei AKP zunächst einen pragmatischen Ansatz im Umgang mit seinen Nachbarn, der auch schon recht schnell diplomatische Erfolge zeitigte und zu einem guten Verhältnis zu Teheran ebenso führte wie zu Bagdad und Damaskus. Doch der Arabische Frühling durchkreuzte diese Politik und führte dazu, dass die Türkei diejenigen Kräfte, die es unternahmen, die alten Regimes zu stürzen, massiv unterstützte; viele dieser Kräfte hatten enge Verbindungen zur Muslimbruderschaft.
Fehleinschätzungen in der Außenpolitik
Der AKP, die mit den Muslimbrüdern die sunnitische Konfession teilt, kam der anfängliche Erfolg der Revolutionäre sehr gelegen. Aber ihre Politik – insbesondere die gegenüber Syrien – brachte der Türkei Spannungen mit den mehrheitlich schiitisch ausgerichteten Nachbarn im Irak und im Iran. Darüber hinaus sei "Syrien eine blutende Wunde in der türkischen Außenpolitik", so Bilhan.
Einen neuerlichen Rückschlag erlitt Ankara, als ein enger Verbündeter, nämlich der ägyptische Präsident Mohammed Mursi, gestürzt wurde. Dies war ein weiterer umgefallener Dominostein in der diplomatischen Strategie Ankaras.
Doch die wachsende diplomatische Isolation scheint sich nun aber in eine Rückkehr zum Pragmatismus zu wandeln. "Es handelt sich dabei um eine realistischere Gestaltung der Außenpolitik, die die nationalen Interessen der Türkei und die Werte, für die ihre Regierungspartei steht, besser miteinander in Einklang zu bringen", meint Sinan Ülgen, Gastforscher am Carnegie Institute in Brüssel.
Der Irak als neuer Partner
"Die Türkei sah die türkisch-irakischen Beziehungen schon immer als Schlüssel zur Stabilität in der Region", erklärte im Oktober der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu bei einer Pressekonferenz mit seinem irakischen Amtskollegen Hoshyar Zebari im Oktober in Ankara. Davutoglu verlieh seinen Worten schon bald Nachdruck, indem er nach Bagdad reiste, um einen bereits für Dezember geplanten Besuch des irakischen Premiers Nouri al-Maliki in der Türkei vorzubereiten.
"Das ist eine eindrucksvolle diplomatische Neuausrichtung", meint dazu der politische Kolumnist Semih Idiz von der türkischen Tageszeitung Taraf und der Website Al Monitor. "Wir haben wirklich wütende Verbalattacken zwischen den beiden Premiers erlebt", sagt er. "Nun aber ist, vor allem als Folge der Situation in Syrien, eine gemeinsame Bedrohung entstanden: der mit Al-Qaida verbundene Extremismus in der Region. Der Irak leidet darunter fast jeden Tag. Langsam aber ist auch die Türkei von dieser Gewalt immer stärker betroffen, obwohl Ankara diejenigen Kräfte im syrischen Konflikt, die aus dem Al-Qaida-Umfeld stammen, wenn auch vielleicht nicht direkt unterstützte, sie aber doch zumindest nicht wahrhaben wollte."
Bei der erneuten Annäherung beider Staaten geht es aber auch um Fragen der Rohstoff- und Energiepolitik. Während der diplomatischen Eiszeit mit Bagdad, näherte sich Ankara der Regierung der "Autonomen Region Kurdistan" an, deren Beziehungen zu Bagdad ebenfalls angespannt sind, seitdem man sich uneins über die Kontrolle der dortigen Energiereserven ist.
Bei der Vertiefung der Beziehungen mit den türkischen Kurden ging es Ankara um einen Zugang zu den großen Öl- und Gasvorkommen im Norden Iraks, mit dem Ziel, den ungeheuren Energiebedarf der Türkei zu decken. Eine Serie von Energie- und Pipeline-Abkommen mit der kurdischen Führung wurde unterzeichnet. Und bereits in den kommenden Monaten soll der Erdölexport in die Türkei vonstatten gehen.
Ein Extrabonus dieser Politik besteht darin, gleichzeitig auch noch die Regierung in Bagdad zu ärgern, die das Recht, solche Verträge zu schließen, für sich allein in Anspruch nimmt, was von Ankara und der "Autonomen Region Kurdistan" naturgemäß bestritten wird.
Doch irgendwann begann die US-amerikanische Regierung in Washington Druck auf die Türkei auszuüben, den Streit mit Bagdad zu beenden. "Nur auf dem Weg einer trilateralen Kooperation zwischen Ankara, Erbil und Bagdad können die Ressourcen der Kurden im Nordirak vollständig erschlossen werden", meint dazu der Experte Ülgen.
Vorsichtige Annäherung an Teheran
Die Verbesserung der Beziehungen zu Bagdad half auch bei der vorsichtigen Wiederannäherung an Teheran. "Al-Maliki genießt die volle Unterstützung aus Bagdad, so dass sich eine Verbesserung der türkisch-iranischen Beziehungen auch auf das Verhältnis der Türkei zu Al-Maliki nur günstig auswirken kann", so der Kolumnist Idiz.
Im November traf sich der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif mit seinem türkischen Kollegen Davutoglu in Istanbul. Beide äußerten ihre Entschlossenheit, jede Art von extremistischer Gewalt zu bekämpfen, insbesondere den von Al-Qaida ausgehenden Terrorismus. Der türkische Außenminister will Teheran schon bald einen Besuch abstatten, und der neu gewählte iranische Präsident Rohani wird wohl in den kommenden Monaten in die Türkei reisen.
Die Türkei gehörte einst zu den engsten Verbündeten Irans, doch die Beziehungen verschlechterten sich, als die beiden Länder die jeweils verfeindeten Lager im syrischen Bürgerkrieg unterstützten. Nun aber scheint der pragmatische Kurs wieder eingeschlagen zu werden. "Wir können durchaus von einer neuen Epoche im iranisch-türkischen Verhältnis sprechen, das - trotz einiger Meinungsverschiedenheiten - in einer ganzen Reihe von regionalen Fragen in die richtige Richtung weist", beteuert Ülgen.
Die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung hinsichtlich des umstrittenen iranischen Atomprogramms ist ein zusätzlicher Faktor, der bei den Annäherungsbemühungen Ankaras eine Rolle spielt. "Die Türkei will bei diesem Prozess nicht völlig abseits stehen", betont Ülgen. Dieser Gedanke spielte sicher eine Rolle bei der Entscheidung, einen Schritt auf den Iran zuzugehen.
Neue Dynamik in den EU-Beitrittsverhandlungen
Bis zum Einfrieren der bilateralen Beziehungen war Istanbul Gastgeber der internationalen Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm. Inzwischen ist man sich in Ankara darüber bewusst geworden, dass man einen hohen diplomatischen Preis zahlt für die Außenpolitik, die die Türkei in den letzten Monaten verfolgte.
"Die Türkei wurde vom wichtigen diplomatischen Geschehen in der Region zunehmend ausgeschlossen und will nun wieder seinen Platz am Tisch einnehmen", meint der Kolumnist Idiz. "Dies war umso schmerzhafter, als die Türkei schließlich sehr ambitioniert ist, was ihre Rolle als Schlüsselmacht in der Region betrifft. Als man sich aber von den wichtigen Entscheidungen plötzlich ausgeschlossen sah, erkannte man in Ankara, dass der Ansatz, der in der türkischen Außenpolitik verfolgt wird, nicht im Interesse des Landes ist. So kam es zu dieser politischen Neuausrichtung."
Als Folge dieses neuen Kurses zeichnet sich schon jetzt eine neue Dynamik in den türkischen Außenbeziehungen ab. Hierzu trägt auch die Europäische Union bei, die im November nach einer 30-monatigen Pause ein neues Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen öffnete.
Angesichts des längst abgekühlten Interesses, mit dem die Türkei dieses Projekt verfolgt, kommt dem Ereignis zwar eher symbolische Bedeutung zu, als dass darin der Beginn einer völlig neuen Phase der Annäherung gesehen werden müsste. Allerdings verschafft es der Türkei zusätzliche Zeit, ihren Bemühungen zum EU-Beitritt Nachdruck zu verleihen, der zwischenzeitlich schon in weite Ferne gerückt schien. Ein kompletter Abbruch der Verhandlungen hätte wohl die wachsende internationale Isolation nur noch weiter gefördert.
Angesichts des anhaltenden militärischen Konflikts in Syrien und des grassierenden Sektierertums, das die ganze Region bedroht, scheint die diplomatische Priorität Ankaras nun darin zu bestehen, Brücken eher wieder neu aufzubauen als sie einzureißen.
Doch der Aufbau von Brücken ist immer schwieriger als das Einreißen. "Ich rechne nicht mit einem schlagartigen Durchbruch zur völligen Beendigung der gegenwärtigen Isolation", meint denn auch Murat Bilhan. "Die Isolation wird anhalten, weil die vergangene Rhetorik derart drastisch war, dass es einige Zeit brauchen wird, bis die Wunden wieder verheilen."
Dorian Jones
© Qantara.de 2013
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de