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Patrick Cockburn ist Nahostkorrespondent der britischen Tageszeitung The Independent. Er erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen für seine Berichterstattung, wie beispielsweise den Orwell Prize for Journalism 2009 und 2014 die Ehrung als "Foreign Affairs Journalist of the Year". Seit den Libanonkriegen in den 1970er Jahren berichtet er über den Nahen Osten und verfolgt die außenpolitischen Verfehlungen Europas und der USA seit deren Einmarsch in Afghanistan 2001.
Im Unterschied zu den Journalisten, die sich von ihren jeweiligen Regierungen und Streitkräften mit gefälligen Geschichten abspeisen ließen, nahm der in Irland geborene Cockburn einen gefährlicheren Weg und ging selbst der Wahrheit nach – entweder in Begleitung ortskundiger Führer oder auf eigene Faust. Dass er mit einem irischen Pass reiste, erleichterte ihm den Zugang zu Gebieten, die anderen Reportern verschlossen geblieben wären (oder die dort nicht überlebt hätten). So konnte er die Grenze nach Afghanistan überqueren und dort Warlords aufsuchen, als die Grenze zu Pakistan angeblich geschlossen war. Auch bereiste er Konfliktgebiete im Irak, die sich kaum ein ausländischer Journalist zu betreten wagte.
Sorgfältig und gewissenhaft zeigt Patrick Cockburn auf, wie der von britischen und amerikanischen Regierungen verfolgte Kurs im Nahen Osten eine Brutstätte für den Extremismus schuf.
Blick hinter die Kulissen
Die Gliederung des Buches orientiert sich an den Kampfzonen: Angefangen bei Afghanistan im Jahr 2001, weiter über den Irak von 2003 bis 2010 (mit einem Exkurs in die 1990er Jahre über Auswirkungen von Sanktionen) und zurück nach Afghanistan, wo er die Rückkehr der Taliban von 2009 bis 2012 beobachtet. Weiter geht es mit Libyen, Bahrain und Jemen von 2011 bis 2015 sowie mit Syrien von 2011 bis 2014, um schließlich wieder im Irak zu landen, wo er aufzeigt, wie der Krieg gegen den Terror eine Welt erschaffen hat, die noch viel schlechter dran ist als 2001.
Dabei entsteht in jedem Kapitel und auf jedem Schauplatz ein anschauliches Bild der immensen Inkompetenz aufseiten derjenigen, die angeblich für die Gesamtstrategie verantwortlich zeichnen.
Erklären lässt sich das mit der Ignoranz gegenüber den geopolitischen Realitäten in den jeweiligen Regionen, mit politischem Opportunismus oder mit der Bereitschaft, sich mit jedem zusammenzutun, der denselben Feind bekämpft.
In ihrem Eifer, Leute wie Gaddafi in Libyen zu stürzen, sah man nicht genau hin, wen man im Kampf gegen den Diktator aufrüstete. So wurde eine eigentlich redliche Rebellion von Extremisten gekapert, die ihrerseits nach der Macht griffen.
Zu Anfang jedes Kapitels steht Cockburns Analyse der Lage anhand seiner Beobachtungen aus erster Hand. Von dort aus nimmt er uns mit in jedes Land und in die dort herrschende Lage vor Ort, indem er seine zur jeweiligen Zeit verfassten Artikel zitiert.
In jedem Einzelfall erkennen wir, wie schlecht alle Parteien auf die bevorstehenden Herausforderungen vorbereitet waren und wie sie sich nach der vermeintlichen Eroberung jedes Landes darüber zerstritten, was mit dem Land geschehen sollte.
Die in Afghanistan installierte Zentralregierung in Kabul hatte keine Kontrolle über die Geschehnisse außerhalb der Stadtgrenzen. Einzelne Warlords herrschten nach wie vor über ihre Gebiete und wechselten zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen mit kühler Berechnung zwischen der Unterstützung der Taliban und deren Bekämpfung.
Wen wundert es, dass sich die Taliban nach dem Einmarsch zurückziehen und anschließend wieder auftauchen konnten? Zudem haben der Einmarsch und der andauernde Krieg eine verheerende Armut über die Menschen gebracht. Jeder, der etwas zu essen und ein wenig Geld anbieten kann, hat es nicht schwer, neue Rekruten anzuwerben.
Die wahren Kosten
Den Berichten von Cockburn zufolge war und ist der Irak für die Amerikaner ein größeres Desaster, als es Vietnam jemals gewesen ist. Wie oft wurde schon das angebliche Ende des Krieges oder ähnlicher Unsinn verkündet. Tatsache ist, dass die Terrorangriffe im ersten Jahrzehnt nach der Invasion von 2003 weiter zunahmen. Hauptgrund dafür ist die Unfähigkeit der Amerikaner, die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten zu begreifen.
Während man als Leser durch die Regionen und das Jahrzehnt geführt wird, kann man nur staunen, wie dieselben Fehler immer aufs Neue begangen werden. Die Berichte von Cockburn gehen bis ins Jahr 2001 zurück und verdeutlichen, wie unvorbereitet die Akteure auf den Umgang mit den Ländern waren, in denen sie die verschiedenen Diktaturen gestürzt hatten. Von Afghanistan bis Syrien werden wir Zeuge, wie sie zivile oder militärische Unterstützung anbieten, ohne die Lage vor Ort in umfassender Weise zu reflektieren.
Cockburn dringt nicht nur deshalb so wirksam zu seinen Lesern durch, weil er die Fakten klar und präzise darlegt. Er lässt die Lage vor unserem inneren Auge wiederaufleben und erinnert uns an den Preis, den die Menschen für diese Kriege zahlen mussten und müssen. Seine Gespräche mit Menschen aus Bagdad, Aleppo und anderen Orten, die wir bisher nur als Namen aus den Nachrichten kannten, führen uns nicht nur die dortige Wirklichkeit vor Augen, sie gehen uns auch menschlich nahe. Der wahre Preis des Krieges im Nahen Osten sind die Verzweiflungstaten einiger dieser Menschen aus dem bloßen Wunsch heraus zu überleben.
"The Age of Jihad" von Patrick Cockburn führt uns deutlich vor Augen, welche verheerenden Folgen die Fehler der Verantwortlichen im Westen für die Menschen im Nahen Osten haben. Sie haben damit die Umstände geschaffen, die einem fanatischen Extremismus in der Region erst auf die Beine halfen. Das Buch ist wahrlich keine leichte Kost. Aber es ist eine Pflichtlektüre für all jene, die wissen wollen, wie wir in die missliche Lage geraten sind, in der wir uns heute befinden.
Richard Marcus
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Patrick Cockburn: "The Age of Jihad: Islamic State and the Great War for the Middle East", Verso Books 2016, 464 Seiten, ISBN-13: 9781784784492