Das Ende von Sykes-Picot?
Bürgerkrieg in Syrien, Anschläge im Irak, Geländegewinne der Terrororganisation "Islamischer Staat“ (IS) – seit Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings im Jahr 2011 vergeht kaum ein Tag ohne Nachrichten aus dem krisengeplagten Nahen Osten. Wo früher Diktatoren für Grabesruhe sorgten, scheint heute alles, was es an Stabilität und Ordnung gab, zusammenzubrechen.
Was zurzeit in der Region passiert, sei aber nur der "Beginn einer Phase der Turbulenz", schreibt Volker Perthes in seinem Essay "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen". Denn das gesamte Staatensystem, das die Westmächte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Mittelmeer und Persischem Golf schufen, stehe auf der Kippe, meint der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Unbeliebte Ordnung
Die Ordnung, die die Westmächte mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 etablierten, galt in vielen Ländern des Nahen Osten zwar von Anfang an als unbeliebt - wenn nicht gar als Ursache allen Übels. Doch dass der IS die Landesgrenzen niederreißt und seine eigenen Gesetze einführt, erfüllt ebenfalls viele Menschen in der Region mit Sorge - und nicht nur dort.
"Im Ergebnis erleben immer mehr Menschen, dass die alte Ordnung zwar 'schlecht' gewesen sein mag, die Alternative zu einer schlechten Ordnung aber nicht unbedingt eine bessere, sondern möglicherweise gar keine Ordnung ist", schreibt Perthes. Ein Grund für dieses Phänomen: Die autoritären Machthaber der meisten arabischen Staaten haben den "ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag", wie Perthes ihn nennt, nicht länger aufrechterhalten können.
Ruf nach Reformen
So hielt die Wirtschaftsentwicklung in vielen Ländern des Nahen Ostens nicht mit dem Bevölkerungswachstum mit; zugleich ist die Jugend höher qualifiziert und besser vernetzt als ihre Eltern und Großeltern. 2011 verlangte sie schließlich Reformen, lautstark und unüberhörbar. Forderungen, die der Westen nie so deutlich formuliert hatte, schreibt Perthes: "Zu oft ist vor 2011 politische Stagnation mit Stabilität verwechselt worden. Autoritäre Regime wirken, eben weil sie Widerspruch unterdrücken, so lange stabil, bis sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten."
Das Problem: Die politischen, sozialen und geopolitischen Konflikte werden mittlerweile in vielen Staaten des Nahen Ostens konfessionalisiert. Die politischen Eliten im Irak und in Syrien nutzen aus, dass die Bürger ihres Landes unterschiedlichen Religionen oder Konfessionen angehören, bevorzugen die einen und vernachlässigen die anderen.
Konfessionalisierung der Bevölkerung
"Je mehr im Hier und Jetzt aber Ordnung, soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität und Gewissheit fehlen, je weniger das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen im Rahmen verlässlicher Staatlichkeit abgesichert wird, desto wichtiger werden konfessionelle, ethnische oder tribale Bindungen und Identitäten", argumentiert Perthes.
Um insbesondere den Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten entgegenzuwirken, müssten sich das sunnitische Könighaus in Saudi-Arabien und die schiitisch-dominierte Führung im Iran einander annähern, meint Perthes – und fordert die USA und die Europäische Union auf, die beiden Regionalmächte dabei zu unterstützen.
Diplomatie statt Drohungen
Sein Credo: Die westlichen Demokratien sollten versuchen, ihre Konflikte mit Staaten im Nahen Osten und die Konflikte zwischen verschiedenen Ländern in der Region mit traditioneller Diplomatie zu überwinden. Als gutes Beispiel dafür sieht Perthes die Beilegung des Nuklearkonflikts mit Iran: 13 Jahre intensiver Diplomatie, die sich gelohnt hätten.
Perthes plädiert dafür, auch mit Staaten zusammenzuarbeiten, deren Politik in mancher Hinsicht problematisch ist – zum Beispiel mit Saudi-Arabien. Zur Begründung schreibt er: "In jedem Fall ist es leichter, mit einem schwierigen, aber funktionierenden Partner umzugehen, als mit gescheiterten Staaten." Nicht wenige regionale Akteure seien gleichzeitig Teil der Probleme und ihrer Lösung.
Starke Analyse, detaillierte Beobachtungen
In solchen - teilweise bemerkenswert einfachen - Analysen liegt die Stärke von Perthes' Essay. Es gelingt ihm auf gerade einmal 145 Seiten, die großen geopolitischen Konfliktlinien des vergangenen Jahrhunderts nachzuzeichnen und dabei die Interessen und Perspektiven der unterschiedlichen Akteure aufzuzeigen. Gleichzeitig beschreibt er detailliert und präzise die Ereignisse der vergangenen fünf Jahre und stellt Zusammenhänge her, die in der täglichen Nachrichtenflut oft verloren gehen.
Auf die Frage, wie sich westliche Politik dem Nahen Osten gegenüber verhalten sollte, gibt Perthes eine klare Antwort: kooperativ, ohne die eigenen Werte und Interessen zu verstecken. Wie genau diese Politik gestaltet werden sollte, erläutert der Nahost-Experte aber nicht genauer - schade, denn die USA und die EU könnten angesichts der Ratlosigkeit, die mit Blick auf die Entwicklungen im Nahen Osten herrscht, konkrete Empfehlungen gut gebrauchen.
In seinem Schlusskapitel "Eckpunkte für europäische Politik" umreißt Perthes, was in Syrien passieren muss: "Internationale Politik muss sich um haltbare Waffenstillstände, um Verhandlungen und um einen politischen Übergangsprozess bemühen, der genügend Glaubwürdigkeit entfaltet, um dem IS und anderen Dschihadisten den Boden zu entziehen." Worte, denen vermutlich kaum ein europäischer Politiker widersprechen würde - deren Umsetzung aber schwierig werden dürfte.
Anne Allmeling
© Qantara.de 2015
Volker Perthes: "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen", Berlin, Suhrkamp-Verlag 2015, 145 Seiten, ISBN: 978-3-518-07442-8