Schreiben ist eine gefährliche Angelegenheit
Ein Dichter wurde von seiner eigenen Hochzeit abgeholt und dem Hinrichtungskommando übergeben. Ein angesehener Übersetzer wurde mit Injektionsspuren am Unterarm am Straßenrand gefunden. Ein Bus mit 21 Schriftstellern an Bord, die auf dem Weg zu einer kulturellen Veranstaltung im Nachbarland waren, sollte in einem Komplott, das allerdings fehlschlug, in den Abgrund gesteuert werden. Ein Dichter wurde auf dem Weg zum Einkaufen entführt und seine Leiche eine Stunde später in der Vorstadt abgeladen. Die Liste ließe sich verlängern. Ja, Schreiben ist eine gefährliche Angelegenheit, das wissen alle, die in meinem Land schriftstellerisch tätig sind.
In diesem absurden Klima bestraft der iranische Schriftsteller sich für sein Schreiben selbst und arbeitet an seiner Selbstzerstörung. Manche werden drogensüchtig, andere gehen ins Exil, was die Selbstzerstörung freilich nur noch verstärkt. Die, die bleiben, müssen sich einer strengen und aufreibenden Zensur unterwerfen.
Die Sache ist folgende: Im Iran ist ein Ministerium eingerichtet worden, dessen Hauptaufgabe darin besteht, zu schauen, was die Schriftsteller schreiben, was die Filmschaffenden produzieren, was die Maler malen und überhaupt was die Künstler schaffen.
Erziehung durch Zensur
Kein Text wird im Iran ohne die vorherige Genehmigung der zuständigen Behörden zur Veröffentlichung freigegeben. Dabei liegt das Hauptaugenmerk unter allen Gattungen vor allem auf dem persischen Roman. Die Zensur hat die iranischen Romanautoren dazu erzogen, nur von dem geschlossenen Innenraum einer Wohnung zu erzählen. In dieser Wohnung geht niemand ans Fenster, um auf die Straße zu schauen, ganz so, als gäbe es weder eine Straße noch eine Stadt noch Lärm, ja nicht einmal Nachbarn. Es geht darum, die Erzählung des Romans auf Küche und Wohnzimmer zu beschränken. In der Romanwohnung, so heißt es, ist kein Bedarf für Toilette, Bad und Schlafzimmer, und der Roman darf von dem, was in jenen Teilen der Wohnung geschieht, nicht berichten. Das Leben der Iraner im iranischen Roman ist eine große Lüge und eine Entstellung der Wirklichkeit.
Zwar haben die meisten Romanschriftsteller gerade im letzten Jahrhundert stets über das Privatleben und die Beziehungen der Menschen als Individuen geschrieben, aber in Iran unterliegen so einfache Fragen wie etwa die, was wir essen, was wir anziehen, welches Buch wir lesen und welche Musik wir hören sollen, eben der staatlichen Weisungsbefugnis. Wie also kann man über Privatleben und persönliche Beziehungen schreiben, ohne auf die Beziehungen der Menschen zur Staatsgewalt zu sprechen zu kommen? Und überhaupt: Wie kann man beim Schreiben die Geschichte vergessen, und was ist Geschichte denn anderes als das, was den anderen widerfahren ist? So muss ein Schriftsteller sich beim Schreiben immer in andere Menschen hineinversetzen und selbstverständlich von anderen Zeiten und Orten schreiben.
Hier könnte man fragen, wo denn die Grenze der Freiheit beim Romanschreiben verlaufe. Um diese Frage zu beantworten, kann man eine weitere Frage stellen: Wo verläuft die Freiheit der Vorstellungskraft? Warum sollen die Menschen nicht frei sein, das, was sie sich vorstellen, ihre ganze Gefühlswelt, zu Papier zu bringen? Die Einengung des unbegrenzten Raumes der Vorstellungskraft führt zu Schweigen, und im Schweigen liegt der Keim des Todes.
Die kulturpolitischen Maßnahmen haben unsere Romane jeder ethischen Ästhetik beraubt. In einem großangelegten Täuschungsmanöver hat man die ethischen Normen im Roman mit den ethischen Normen der öffentlichen Meinung – auf der Straße, in den Parks und im Bus – gleichgesetzt. Die, welche uns zu einer solchen Zensur zwingen, haben die klassische persische Literatur nicht gelesen und sind mit ihrem Geist überhaupt nicht vertraut. In dieser Literatur ist überall von Wein und männlichen Geliebten die Rede.
In manchen persischen Quellen wird die Geschichte des Propheten Joseph so dargestellt, dass Potiphar, als sie Joseph zu sich rief, auf dem Boden lag, während Joseph zwischen ihren Beinen saß und seine Hand nach ihrem Gürtel fasste, oder dass, als Josephs Halbbrüder Benjamin, seinen leiblichen Bruder, zu ihm brachten, die beiden gemeinsam nachts im selben Bett schliefen und Joseph Benjamin die ganze Nacht im Arm hielt und seinen Duft einsog.
Ideologische Literatur im Dienste des Staates
Wenn aber ein iranischer Schriftsteller solche Szenen in der heutigen Situation in einem Roman beschreibt oder nur schon ein Mann eine Frau berührt, wird er der Unsittlichkeit angeklagt und die betreffende Stelle aus dem Text entfernt. Zensur in Iran bedeutet, dass gerade die wichtigsten und bedeutendsten literarischen Werke je näher sie der Lebenswirklichkeit stehen, desto härter von der Zensur betroffen sind.
Neben der Literatur, die von der Zensur entmannt und neutralisiert worden ist, gibt es noch eine andere Literatur, die eifrig gefördert wird. Es handelt sich dabei um ideologische Literatur im Dienste der Ziele des Staates. Solche Literatur findet nirgends Abnehmer.
Zwar ist eine Menge Geld für die Gründung von Institutionen ausgegeben worden, die solche Literatur produzieren sollen, aber diese ziehen meistens, ja, eigentlich immer nur die unbegabtesten Leute, die sich zum Schriftsteller berufen fühlen, an. Als ich zwischen 1982 und 1984 meinen Militärdienst leistete, wurde den Soldaten eine wöchentlich erscheinende Propagandazeitschrift verteilt – und natürlich von unserem Sold abgezogen –, die keiner lesen wollte und die wir beim Essen als Unterlage verwendeten.
Die Zensur hat die Literatur Irans wie ein schlimmer Unfall gelähmt und jeder Fruchtbarkeit beraubt. Am Anfang des 21. Jahrhunderts erleben die iranischen Schriftsteller wieder einmal eine Phase, in der Ǧalāl al-Dīn Rūmī, einer der größten klassischen Dichter Irans, ja vielleicht der ganzen Welt, der Unsittlichkeit und Sündhaftigkeit angeklagt wird.
Politischer Einfluss macht alles möglich
Politischer Einfluss ist im Iran wie ein Schlüssel, mit dem sich jede Türe öffnen lässt. So kann man etwa von der Bank ein großes Darlehen bekommen, ohne es abzubezahlen. Man kann wichtige Posten bekleiden, ohne dafür qualifiziert oder fähig zu sein. Man kann sogar einen Universitätsabschluss erwerben, ohne je die Veranstaltungen zu besuchen. Mit demselben Kniff, so meinen die Beamten der Kulturbehörden, lassen sich auch gute Romane und hervorragende Romanschriftsteller hervorbringen und weltweit vermarkten. So ist denn immer wieder einmal davon die Rede, auf dem Weg der Literatur mit der Welt Kontakte zu knüpfen.
2014 wurde eine 200-köpfige Delegation an die Frankfurter Buchmesse entsandt, und der Leiter des Iran-Standes an der Buchmesse gab nach seiner Rückkehr in den Iran einer Zeitung ein Interview unter der Überschrift Maximale Präsenz im internationalen Buchwesen. In diesem Interview erklärte er einfältig, der Auftritt Irans an der Frankfurter Buchmesse lasse noch einiges zu wünschen übrig, ohne jedoch die Zensur als schwerstes Hindernis für die weltweite Verbreitung der zeitgenössischen iranischen Literatur auch nur mit einem Wort zu erwähnen.
Danach behauptete er, dass er mit Juergen Boos, dem Leiter der Frankfurter Buchmesse, ausgehandelt habe, dass Iran 2018 als Ehrengast eingeladen werde. Zugleich berichtete er, dass er auch mit den Leitern anderer internationaler Ausstellungen gesprochen und sich um die Teilnahme an deren Veranstaltungen beworben habe.
Maximale Präsenz im internationalen Buchwesen also – nur mit welcher Literatur? Mit dieser ideologischen Literatur? Oder mit jener zensierten Literatur? Mit einer Literatur, die nicht einmal das iranische Publikum zu überzeugen vermag, weil viele Leser sicher sind, dass in all diese Bücher eingegriffen worden ist und sie weit von der ursprünglichen Fassung entfernt sind? Eine solche Situation führt dazu, dass die durchschnittliche Lesedauer pro Person in unserem Land bei gerade einmal zwei Minuten pro Tag liegt.
Iran hat das Urheberrecht noch nicht umgesetzt und ist nicht einmal der Konvention von Bern beigetreten. Und dennoch möchte das Land gerne als Ehrengast an die Frankfurter Buchmesse geladen werden? Freilich würde ein Beitritt Irans zur Konvention von Bern der wilden Übersetzerei ausländischer Romane Grenzen setzen. Wie aber würde er sich auf die freie Weiterverbreitung iranischer Romane und anderer literarischer Werke auswirken?
Vor einigen Monaten hat die deutsche Botschaft in Iran die Übersetzerin meiner Romane nach Iran eingeladen, damit sie und ich dort über die Übersetzung persischer Romane ins Deutsche und die damit einhergehenden Probleme ein Podiumsgespräch führen. Doch hat uns keines der Kulturzentren in Teheran, die alle unter staatlicher Aufsicht stehen, für diesen Anlass einen Raum zur Verfügung gestellt. Wissen Sie, wo die Veranstaltung schlussendlich stattfand? Im Haus des deutschen Kulturattachés in Teheran!
In der Iranischen Nationalbibliothek, die verpflichtet ist, von jedem Buch, das in Iran veröffentlicht wird, ein Exemplar zu erwerben, ist kein einziges Buch von mir oder von anderen Schriftstellern, die als andersdenkend oder unislamisch gelten, zu finden.
Wirklichkeit oder Propaganda?
Zwar haben die Kulturbehörden letzthin die Veröffentlichung einer Sammlung von Erzählungen von mir bewilligt. Allerdings ist diese Sammlung, die zehn Kurzgeschichten enthält, mit nur sechs Geschichten erschienen. Noch bevor ich den Behörden diese Sammlung vorlegte und sie um Druckerlaubnis ersuchte, hatte ich vier Geschichten aus der Sammlung entfernt, da ich nicht die geringste Chance sah, dass die Sammlung in der vollständigen Fassung genehmigt würde.
Übrigens wurden auch diese sechs Erzählungen von den Herren Beamten gekürzt und verändert. So wurden zum Beispiel Ausdrücke in diesen Geschichten wie "das Leben eines Guerillakämpfers" gestrichen, und das in einer Geschichte, die in den 70er Jahren spielt, jenem Jahrzehnt also, in dem die Operationen der Guerrillas im Iran ihren Höhepunkt erreichten. Die Zensur will, dass wir vergessen, wer wir gewesen sind und was wir getan haben. Die Zensur will, dass wir die Wirklichkeit unseres Lebens mit der Dauerpropaganda der staatlichen Medien vertauschen.
Diese Sammlung von Erzählungen ist das erste neue Buch, das seit 2005 von mir erschienen ist. Dabei sind in diesen neun Jahren vier neue Romane von mir in deutscher, englischer und norwegischer Übersetzung veröffentlicht worden, ohne dass sie zuerst in Iran auf Persisch, der Sprache also, in der sie verfasst worden sind, veröffentlicht werden konnten. Andererseits wieder ist in derselben Zeit eine meiner Erzählungen verfilmt und im iranischen Staatsfernsehen gezeigt worden, ohne dass ich um Erlaubnis gefragt, bezahlt oder auch nur informiert worden wäre.
Ein unabhängiger Schriftsteller in Iran ist den Behörden hilflos ausgeliefert. Das Urheberrecht hat hier keine Bedeutung. Deshalb macht man nicht nur mit den Werken von mir, einem Autor, der die Behörden verärgert hat, sondern auch mit denen von ausländischen Autoren, was man will. Erotik, die einen bedeutenden Anteil des modernen Romans ausmacht, wird völlig aus den Werken getilgt. Dabei hängt es vom Einvernehmen zwischen den Staatsbeamten und dem Übersetzer des Werkes ab, wie tief die Schere der Zensur ins Fleisch dringt. Ein ausländischer Autor bekommt von alledem ohnehin nichts mit.
Angesichts der Abwesenheit freier und unabhängiger Parteien und anderer politischer Organisationen stehen Intellektuelle und Künstler gegen ihren Willen in der ersten Reihe der Opposition, oder vielmehr sind sie dorthin geworfen worden. Und unter solchen Bedingungen, unter denen sie nur mit der Verbreitung ihrer Gedanken den Gang der Dinge beeinflussen können, stellt sich ihnen plötzlich die Zensur in den Weg und verhindert die Veröffentlichung ihrer Meinungen. Die Zensurbeamten legen Bücher wie einen Teller Suppe unter das Mikroskop und suchen darin nach Mikroben.
Viele Juristen betrachten die Begutachtung von Büchern vor ihrer Veröffentlichung als unvereinbar mit dem iranischen Grundgesetz. Aber in Iran wird das Gesetz sowieso meistens nur dann ernst genommen, wenn es die Interessen der Mächtigen sichert. Zensur, so viel ist gewiss, beruht auf dem Gedanken, dass Worte die Macht haben, Regierungswechsel herbeizuführen. Aber die meisten Soziologen sind überzeugt, dass die Freiheit des Wortes Regierungen vor dem Sturz infolge von Aufständen oder Revolutionen bewahrt.
Wenn das Wort nicht frei ist, gibt es keinen Standard, an dem sich die Leistung der Regierung überprüfen ließe, Reformen werden eingestellt, und die Gesellschaft schließt sich mehr und mehr ab. Dabei besteht die harmloseste Folge der Zensur – doch auch diese ist schon schlimm genug – noch darin, dass sie die Menschen zu einem Doppelleben zwingt, Heuchelei fördert und die Menschen allmählich doppelgesichtig macht.
Eliten oder Popkultur?
Im Iran ist es der Kulturpolitik jedenfalls gelungen, die Eliten der Gesellschaft nach und nach völlig auszuschalten. Daran etwa, dass mehr als eine Million Menschen am Begräbnis eines allseits bewunderten Popstars teilnehmen, zeigt sich, dass die Eliten aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt werden. Die Kulturbehörden veröffentlichten ein Kondolenzschreiben, aber wenn unabhängige Schriftsteller und Künstler sterben, strahlt das Staatsfernsehen nicht einmal eine Kurzmeldung dazu aus. Ringer, Fernsehprominente und Popstars haben infolge der Ausschaltungs- und Zensurpolitik gegenüber Schriftstellern und Künstlern die Bühne für sich.
Sogar das Wort 'Zensur' ist bis vor Kurzem zensiert worden. Keine Zeitung durfte es erwähnen. Die zuständigen Behörden verwendeten stattdessen ein Wort, das sich im Sinne von 'Unterscheidung zwischen Gut und Böse' auffassen lässt. So handelte es sich bei den Zensurbeamten um Personen, die das Böse vom Guten trennten. Das Wort 'Zensur' fand erst Eingang in die staatlichen Medien, als Präsident Rūḥānī in seinen Wahlkampfauftritten die Abschaffung der Zensur versprach. Dieses Versprechen hat er allerdings bis heute nicht eingelöst. Ebenso wird die Schriftstellervereinigung Irans nicht anerkannt und ihre Tätigkeit ist immer noch verboten.
Angesichts dieses Klimas aus Schweigen und Zensur kann man nur hoffen, dass es reiner Zufall gewesen ist, dass laut gewissen Medienberichten die Polizei jene Gruppe iranischer Journalisten auseinandergetrieben hat, welche sich nach den Terroranschlägen von Paris versammelt hatten, um ihre Solidarität mit den Opfern dieser Tragödie, den Karikaturisten von Charlie Hebdo, auszudrücken.
Amir Hassan Cheheltan
© Fikrun wa Fann 2015