Schreiben, um am Leben zu bleiben

Die Anthologie "Mit den Augen von Inana" versammelt Gedichte und Kurzgeschichten von 19 Schriftstellerinnen aus dem Zweistromland. Es ist ein Querschnitt dessen, was Frauen im Irak heute schreiben – über ihr Leben und ihren Alltag im Kriegszustand, ihre Wünsche, Träume und Leiden. Von Rosa Gosch

Von Rosa Gosch

Seit Ende Februar 2015 die Bauingenieurin Zekra Alwach zur Bürgermeisterin von Bagdad ernannt wurde, regiert zum ersten Mal überhaupt eine Frau eine arabische Hauptstadt. Kein anderes Land im Nahen Osten hat so viele weibliche Abgeordnete wie der Irak. 25 Prozent der Parlamentssitze sind dort von Frauen besetzt.

Der Erfolg von Zekra Alwach ist gewiss nicht repräsentativ für die Rolle der Frau im Irak heute, aber auf politischen Wahlplakaten, im öffentlichen Dienst oder als Lehrkräfte sind Frauen Teil des irakischen Alltags. Und in der Literatur? Wer sind dort die starken Stimmen? Gibt es in der patriarchalischen Gesellschaft des Irak heute überhaupt eine Frauenliteratur?

Ja, sagen die irakischen Schriftstellerinnen Amal Ibrahim al-Nusairi und Samarkand al-Djabiri, die am 17. März 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zur Lesung und zum Gespräch zu Gast waren. Sie sind zwei der Stimmen, die die kürzlich erschienene Anthologie "Mit den Augen von Inana" versammelt. Die Journalistin Birgit Svensson, die selbst seit vielen Jahren in Bagdad lebt, hat den Band herausgegeben.

"Mit den Augen von Inana" versammelt Gedichte und Kurzgeschichten von 19 Schriftstellerinnen aus dem Zweistromland. Es ist ein Querschnitt dessen, was Frauen im Irak heute schreiben – über ihr Leben und ihren Alltag im Kriegszustand, ihre Wünsche, Träume und Leiden. Laut Herausgeberin ist es die erste Anthologie zeitgenössischer Autorinnen aus dem Irak, die seit dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 erschienen ist.

Buchcover "Mit den Augen von Inana – Lyrik und Kurzprosa zeitgenössischer Autorinnen aus dem Irak", herausgegeben von Birgit Svensson, im Verlag Hans Schiller
Die erste Anthologie zeitgenössischer Autorinnen aus dem Irak, die seit dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 erschienen ist: "Mit den Augen von Inana – Lyrik und Kurzprosa zeitgenössischer Autorinnen aus dem Irak", herausgegeben von Birgit Svensson.

Auf Arabisch wurde die Sammlung erstmals 2012 veröffentlicht. Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Botschaft in Bagdad und dem Verband deutscher Firmen EFI ist sie jetzt in deutscher Übersetzung erschienen. Eine französische Fassung ist bereits mit Geldern des französischen Außenministeriums in der Umsetzung. Auch eine englische Version ist geplant. Gedruckt wurden alle Auflagen im südirakischen Basra.

Bagdads berühmte Büchermeile

Die Lyrik hat in der arabischen Welt eine starke Tradition – und nach Aussage von Birgit Svensson erlebt sie im Irak derzeit geradezu einen Boom. Die Al-Mutanabbi-Straße, die berühmte Büchermeile in Bagdad, wo sich ein Buchladen neben dem anderen befindet und die seit jeher in der arabischen Welt ein Synonym für Literatur schlechthin ist, gehört heute zu den pulsierendsten Straßen der Hauptstadt.

Ein Grund dafür, dass Lyrik im Irak momentan so populär ist, liegt Amal Ibrahim al-Nusairi zufolge nicht zuletzt daran, dass Gedichte, Emotionen und Schmerzen aus jahrzehntelangen Kriegen und Diktaturen in einzigartiger Weise komprimieren können und so ein Ventil bieten, um diese angestauten Gefühle herauszulassen. "Ich schreibe, um am Leben zu bleiben", sagt die 1969 in Bagdad geborene Schriftstellerin, die außerdem die Kultur- und Medieneinrichtung Al-Noor im Irak leitet. "Wir können angesichts der ganzen Gewalt nicht still sein."

Nicht still sein zu wollen, das scheint viele der Autorinnen in dem dünnen, rund einhundert Seiten umfassenden Band anzutreiben. Und Wut, wie Samarkand al-Djabiri, Jahrgang 1973, hinzufügt. "Ich schreibe, weil mir die Freiheit genommen wurde." Sie verarbeitet in ihrem Gedicht Märtyrertod, das sie mit Inbrunst aufrecht stehend in Berlin vortrug, die Ermordung ihres Vaters durch das Saddam-Regime.

Tiefe Einblicke in den irakischen Alltag

Die Verfasserinnen in "Mit den Augen von Inana" zeigen einen irakischen Alltag, der einerseits oft kaum überrascht, anderseits genau wegen seiner Alltäglichkeit und wie dieser Alltag in Worte gepackt wird, verstört: Es geht um Bombenanschläge und Entführungen, willkürliche Verhaftungen und Folter, Auftragsmorde und Straßenkontrollen. Es geht um den Gestank von Militärstiefeln und das Parfüm von Autofahrerinnen. Und es geht vor allem um den Verlust geliebter Menschen und den Schmerz der Überlebenden.

Wie fühlt es sich an, wenn man mit dem Auto in dem Stadtviertel unterwegs ist, in dem man aufgewachsen ist, und nirgends parken kann? "Überall vertreibt man mich. Keiner duldet meinen Wagen vor seiner Tür. 'Vielleicht ist ja Sprengstoff in dem Auto'", schreibt Aliya Talib in ihrer Kurzgeschichte Mein Viertel, mein Parfüm. Menschen, mit denen man jahrelang Tür an Tür gewohnt hat, erkennen oder wollen einen nicht mehr erkennen. Zurück bleibt die unendliche Einsamkeit der Parkplatzsuche.

Von links nach rechts: Samarkand al- Djabiri, Birgit Svensson und Amal al-Nusairi; foto: Birgit Svensson
Die Verfasserinnen in "Mit den Augen von Inana" (hier Samarkand al-Djabiri (l.) und Amal al-Nusairi (r.) gemeinsam mit der Herausgeberin Birgit Svensson im Bild) zeigen einen irakischen Alltag, der einerseits oft kaum überrascht, anderseits genau wegen seiner Alltäglichkeit und wie dieser Alltag in Worte gepackt wird, verstört.

Der weibliche Blick auf solche alltäglichen Dinge wie Autofahren zeigt auch, wie Frauen im Irak eben anders leben – und leiden – als Männer. In Maysaloun Hadis Geschichte Die Heuschrecke muss es die Protagonistin immer wieder über sich ergehen lassen, dass Männer sie ungefragt beim Parken dirigieren – und dies, obwohl manche von ihnen, wie die Autorin ironisch bemerkt, nicht einmal sehen können. "Wieder so ein Typ, der mich vor aller Augen blamiert", konstatiert die Ich-Erzählerin trocken.

Selbstverständlich teilen Frauen und Männer im Irak viele der Bedrohungen durch Krieg und Gewalt, aber Frauen sind heute gleichwohl immer noch anderen gesellschaftlichen Anforderungen und Zwängen unterworfen als Männer. Selten wird diese wahrlich nicht unbekannte Tatsache dem deutschen Leser so plastisch erfahrbar gemacht wie in vielen Stücken in diesem Buch.

Auch das Schreiben selbst ist für Frauen im Irak nicht dasselbe wie für Männer. "Am Anfang meines Schreibens habe ich Probleme in der Familie und auf der Arbeit bekommen. Aber ich schreibe, um sichtbar zu sein", erzählt Samarkand al-Djabiri. Das Schreiben bedeutet für die irakischen Schriftstellerinnen oft auch, dass sie sich nicht mehr an bestimmte Konventionen halten. "Ich schweige nicht mehr, um dir zu gefallen, ich lege sämtliche Gewohnheiten ab", schreibt Salima Sultan Nur in ihrem Gedicht Gewohnheit.

Angst ist ein schlechter Ratgeber

Birgit Svensson berichtet während ihrer Buchvorstellung in Berlin, dass in Bagdad derzeit viele Menschen alte Angewohnheiten ablegen: "Die Menschen in Bagdad gehen jetzt wieder auf die Straße", erzählt die Journalistin. "Es gibt inzwischen sogar wieder Fischrestaurants!" Die Leute besuchen wieder Lesungen oder Konzerte, sie verstecken sich nicht länger in ihren Häusern und Wohnungen vor der Gewalt. "Angst ist ein schlechter Ratgeber, um den Alltag zu meistern", so Birgit Svensson.

Wie viele Menschen im Irak die Aufbruchstimmung, die Svensson und ihre irakischen Kolleginnen bemüht sind zu vermitteln, derzeit teilen, lässt sich schwer beurteilen. Der Blick der Autorinnen auf die eigene Zukunft und die ihres Landes stimmt zumindest hoffnungsvoll:"Ich bin optimistisch, obwohl viele Intellektuelle getötet wurden oder das Land verlassen haben", sagt Amal Ibrahim al-Nusairi. "Die Willensstärke der Menschen nimmt zu." Und Samarkand al-Djabiri ergänzt: "Ich hoffe nicht. Ich plane. Ich verwirkliche."

Rosa Gosch

© Qantara.de 2015

Birgit Svensson (Hg.): "Mit den Augen von Inana – Lyrik und Kurzprosa zeitgenössischer Autorinnen aus dem Irak", Aus dem Arabischen von Leila Chammaa und Jessica Siepelmeyer, Verlag Hans Schiller, 2015