Israelischer Frühling oder Sommer der Wut?
Es ist alles anders als im letzten Jahr, dem Sommer des sozialen Protests in Israel. Damals gingen in den großen Städten des Landes Zehntausende auf die Straßen um gegen überhöhte Mieten, unerschwingliche Immobilienpreise und erdrückende Lebenshaltungskosten zu demonstrieren. Auf dem Rothschild-Boulevard im Herzen der Mittelmeer-Metropole Tel Aviv entstand ein fröhlich buntes Zeltlager, in dem Vorlesungen abgehalten wurden, Diskussionsrunden und Liederabende stattfanden. Nicht nur die israelische Öffentlichkeit, die ganze Welt sah mit Staunen und Sympathie zu, wie sich eine breite Bewegung überwiegend junger Leute erhob und soziale Gerechtigkeit forderte.
Gewaltsames Vorgehen der Polizei
Auch in diesem Jahr wird in Israel wieder demonstriert, denn an der schwierigen Lage der Mittelschicht und der armen Bevölkerung des Landes hat sich kaum etwas geändert. Die Immobilienpreise sind nur unwesentlich zurück gegangen, die Lage auf dem Wohnungsmarkt bleibt extrem angespannt und Löhne und Gehälter reichen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Vor allem aber ist der breite Graben zwischen der kleinen superreichen Oberschicht und der Bevölkerungsmehrheit nicht geschrumpft. Nach den Zahlen der OECD gibt es in Israel mehr Armut als in Mexiko. Der Protest in diesem Jahr ist daher wütender, radikaler und politischer und er wird mit aller Macht des Staates bekämpft.
Als vor zwei Wochen Dafni Leef, die Initiatorin der Studentenproteste des letzten Jahres, versuchte, wie im letzten Jahr ihr Zelt auf einem Bürgersteig in Tel Aviv aufzuschlagen, wurde sie von der Polizei mit Gewalt daran gehindert und festgenommen. Die Sicherheitskräfte gingen dabei so brutal vor, dass der Studentin der Arm gebrochen wurde. Dies führte einen Tag später zu neuen Protesten, bei denen in Tel Aviv auch die Fensterscheiben einer Bank zu Bruch gingen. Wieder war die Polizei mit Gewalt im Einsatz. 98 Demonstranten wurden festgenommen, etliche von ihnen wurden dabei grün und blau geschlagen.
Itai Engel, ein prominenter israelischer Fernsehjournalist und Kriegsreporter, dessen Bruder unter den Opfern der Polizeigewalt war, verglich das Geschehen in Tel Aviv mit Szenen, die er bei seinen Einsätzen in Ländern wie Kongo, Haiti, Tunesien und der Türkei gesehen hatte.
Tahrir-Platz in Tel Aviv?
Der israelische Staat, das zeigt das harte Vorgehen der Polizei in den vergangenen Tagen, will eine Neuauflage der Demonstrationen des vergangenen Sommers verhindern. Eine neue und vielleicht radikalere Protestbewegung soll im Keim erstickt werden. Dies wurde auch deutlich aus Reaktionen israelischer Regierungspolitiker auf die Demonstrationen. Die Likud-Abgeordnete Miri Regev beispielsweise bezeichnete die Aktivisten als Anarchisten und Linksextremisten, die den Sturz der Regierung anstrebten.
"Die Demonstranten wollen keine soziale Veränderung. Sie protestieren um des Protestes Willen", rief sie vom Rednerpult der Knesset aus voller Empörung. "Die linksextremen Protestierer wollen den Rabin-Platz in den Tahrir-Platz verwandeln und die Regierung stürzen." Der Tahrir-Platz in Kairo, von dem die ägyptische Revolution ihren Ausgang nahm, gilt den meisten Israelis nicht als Chiffre für die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit, sondern als Symbol für Umsturz und Chaos.
"Mit Nettigkeit erreicht man nichts"
Genau das aber fordert der Schriftsteller Yoram Kaniuk. "Wenn man nett ist, kann man nichts erreichen", sagt der 82-jährige Literat und erinnert an die Leistungen seiner Generation, die in den sechziger Jahren mit viel Mut um ihre Rechte gekämpft habe. Im israelischen Fernsehen wurde er in der letzten Woche mit der 27-jährigen Stav Shaffir zusammengebracht, einer der Anführerinnen der Protestbewegung. "Nettigkeit nützt nichts", sagte der hoch geachtete Autor zu der jungen Frau. "Ihr müsst um eure Rechte kämpfen. Entweder mit einer blutigen Revolution oder in der Politik."
Die israelische Gesellschaft aber will von blutiger Revolution nichts wissen. Radikale Forderungen und Abweichungen vom Konsens lehnt sie ab. Israel liebe den Protest nur, solange er harmlos und freundlich bleibe und keinen Funken bürgerlichen oder demokratischen Bewusstseins entzünde, analysiert der Journalist Gideon Levy in der Tageszeitung Haaretz. In dem Augenblick aber, da die Forderungen radikaler würden und die ersten Schaufensterscheiben zu Bruch gingen, sei die Antwort unverhältnismäßige Gewalt der Polizei und Verurteilung durch die Öffentlichkeit.
Wenig Interesse der Medien
Auch die Medien zeigen in diesem Jahr weniger Sympathie für die Demonstranten als im letzten Jahr. Die Berichterstattung sei um 40 Prozent zurückgegangen, stellte das Medieninstitut Ifat in einer kürzlich veröffentlichten Erhebung fest. Außerdem sei sie - im Unterschied zum letzten Jahr - überwiegend distanziert und negativ.
"Das ist nicht überraschend", sagt der Werbefachmann Eilon Zermon im israelischen Fernsehen. "Im letzten Jahr war der Protest etwas Neues, Überraschendes. An einem Wochenende gingen eine halbe Million Demonstranten landesweit auf die Straße." In diesem Jahr dagegen seien es nur einige Hundert oder wenige Tausend, die ihren Ärger und ihren Protest in die Öffentlichkeit trügen. Das alleine sorge dafür, dass die Berichterstattung auf die hinteren Seiten der Zeitungen verdrängt werde.
Darüber hinaus stecken die israelischen Medien tief in der Krise. "Die Werbeeinnahmen sind um 30 bis 40 Prozent zurückgegangen", erklärt der Journalist Ari Shavit. Ein gesellschaftlicher Aufstand, der als Protest gegen überhöhte Preise begann und sich zunehmend gegen die extrem reiche Oberschicht richtet, sei nicht im Sinne der Verlage oder der Anteilseigner der privaten Fernsehkanäle. In Israel gehören die Massenmedien mit der größten Verbreitung wenigen reichen und politisch gut vernetzten Familien. Die am meisten gelesene Zeitung des Landes ist die kostenlos verteilte Tageszeitung Israel Hayom, die dem amerikanischen Multimilliardär Sheldon Adelson gehört, einem engen Vertrauten von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Auch der staatliche Rundfunk steht unter dem Druck der Politik. Er hat in den letzten Jahren viel seiner Unabhängigkeit eingebüßt und seine dominante Stellung in der Medienlandschaft längst verloren.
Bettina Marx
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Redaktion: Arian Fariborz/ Qantara.de