Bankräuber und Volkshelden in Beirut

Manche Libanesen und Libanesinnen nehmen in ihrer Verzweiflung die Dinge selbst in die Hand: Sie überfallen ihre Bank, um an ihr eigenes Geld zu kommen, und werden dafür gefeiert. Karim El-Gawhary traf zwei von ihnen in Beirut.

Von Karim El-Gawhary

Man stelle sich vor, man braucht dringend Geld. Nichts Ungewöhnliches. Grotesk wird es, wenn die benötigte Summe eigentlich auf dem eigenen Konto bei der Bank liegt. Doch die weigert sich, das Geld auszuzahlen. Genau das erleben Libanesen seit drei Jahren. Egal wie viel Geld sie auf der Bank haben: Wegen der Wirtschafts- und Bankenkrise gilt ein Auszahlungslimit von 400 Dollar pro Monat. Was tun, wenn ein Familienmitglied mit einer lebensbedrohlichen Krankheit ins Spital muss und eine Rechnung von mehreren tausend Dollar zu begleichen ist? In ihrer Verzweiflung nehmen manche Libanesen und Libanesinnen die Sache selbst in Hand: Sie überfallen ihre Bank, um an ihr eigenes Geld zu kommen.

Es ist irgendwie aufregend, die Treppe eines typischen Mittelklassehauses im Beiruter Viertel Ras El-Naba hinaufzusteigen und darauf zu warten, dass eine Bankräuberin die Tür öffnet. Ihr Aussehen ist bekannt. Bei ihrem Überfall auf eine Bank wurde ein Facebook-Video gedreht. Es zeigt eine junge resolute Frau, die im vergangenen September in Beirut in eine Bank marschiert und eine Waffe in die Luft hält. Im Inneren bricht lautes Geschrei aus. Und dann die berühmteste Szene: Sie steht auf einem Schreibtisch, thront über den Bankangestellten und Kunden, die Waffe lässig in den Hosenbund gesteckt. Es hat etwas von Thelma und Louise und Hollywood.

Doch als Sally Hafez freundlich die Tür öffnet, folgt eine Überraschung. So gar nicht kriminell, so gar nicht Hollywood. Sally lächelt, wirkt lässig in ihren Jeans und dem weiß-blau gestreiften T-Shirt. Sie ist relativ klein. Auf dem Schreibtisch in der Bank mit ihrer Waffe, die sich später als Spielzeugpistole ihres Neffen herausstellen sollte, wirkte sie viel größer. Ihr Vater und ihre Tante sitzen auf dem Sofa in ihren Hausanzügen. Die 28-jährige Sally wohnt noch in ihrem Elternhaus. Es hat etwas von einem Museum. Das antike Kohlebügeleisen als Ausstellungsstück im Regal oder die große aus Holz geschnitzte afrikanische Giraffe, die neben dem niedrigen Tisch steht, auf dem arabischer Mokka serviert wird.

„Ich musste eine Entscheidung treffen, so schnell wie möglich“

Sally Hafez im Gespräch mit Karim El-Gawhary in Beirut. (Foto: Karim El-Gawhary)
Scheitern war keine Option: „Ohnmächtig zu sein, sich gebrochen und besiegt zu fühlen – all diese Dinge kamen zusammen und gaben mir das Gefühl, nichts zu verlieren zu haben. Für das Überleben meiner Schwester gab es keine Zeit zu verlieren. Ich wollte das Geld holen, egal wie. So machte ich mich auf den Weg zur Bank“, sagt Sally Hafez im Gespräch mit Karim El-Gawhary.

„Ich mache keine halben Sachen. Wenn ich etwas anpacke, dann muss es auch klappen“, beginnt Sally das Gespräch mit qantara.de. Auf ihrem Handy zeigt sie den Grund für ihren Banküberfall: Ein Bild ihrer krebskranken Schwester. Die junge Frau liegt im Krankenhausbett, ihr Haar ist zur Hälfte ausgefallen. Ihre Tochter schmiegt sich an sie. Es ist ein Bild der völligen Erschöpfung, kurz vor dem Ende.

Um das Leben ihrer Schwester zu retten, brauchte Sally Geld. Eigentlich hatte die Familie genug Geld auf dem Konto bei der libanesischen BLOM BANK. „Ich bin nicht nur einmal zur Bank gegangen, sondern Dutzende Male“, erinnert sich Sally. Immer hieß es, sie könnten mir das Geld nicht geben. Die Behandlung der Schwester sei nicht ihr Problem. „Es gibt keinen funktionierenden Staat im Libanon, der mich schützt. Wir werden von einer Mafia regiert, die unser Geld ins Ausland gebracht hat“, sagt sie sichtlich wütend.

Tatsächlich hatten libanesische Banken vor 2019 mit hohen Zinsen für Dollars geworben. Doch irgendwann kam kein frisches Geld mehr. Das Schneeballsystem brach zusammen. Zudem hatten die Banken dem libanesischen Staat viel Geld geliehen, das in korrupten Kanälen verschwand und nicht wieder zurückgezahlt wurde. Kurz: Ein Großteil der Dollars war verschwunden. Deshalb gibt es heute nur noch Auszahlungen von wenigen hundert Dollar. De facto sind die Ersparnisse der Menschen weg.

„Ohnmächtig zu sein, sich gebrochen und besiegt zu fühlen – all diese Dinge kamen zusammen und gaben mir das Gefühl, nichts zu verlieren zu haben“, fasst es Sally zusammen. Das habe sie stark gemacht. „Für das Überleben meiner Schwester gab es keine Zeit zu verlieren. Scheitern war keine Option. Ich wollte das Geld holen, egal wie. So machte ich mich auf den Weg zur Bank.“ Andere Libanesen hätten schließlich schon vor ihr erfolgreich eine Bank überfallen, um an ihr eigenes Geld zu kommen.

„Robin Hood des Libanon“

Damit sind wir bei dem Mann, den sie den Robin Hood des Libanons nennen. Bassam Al-Sheich Hussein hat die Methode, sich im Libanon sein Geld mit Waffengewalt von der Bank zu holen, praktisch erfunden. Er lebt in einem der ärmlichen Vororte südlich von Beirut. Von seinem Dach aus, auf dem er uns trifft, kann man das Meer sehen, aber nicht hören. Die nahegelegene Start- und Landebahn des Beiruter Flughafens übertönt alles. Bassam sieht um einiges verwegener aus als Sally, mit seinem grauschwarzen Bart, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf einem seiner muskulösen Arme prangt eine tätowierte Kralle. Das Gesicht des 42-Jähigen ist vom Leben gezeichnet.

Bassam Al-Sheich Hussein im Gespräch mit Karim El-Gawhary. (Foto: Karim El-Gawhary)
Geldabheben mit Waffe: Der Hintergrund der Tat von Bassam Al-Sheich Hussein ist ähnlich wie bei Sally. Auch Bassem musste eine Krankenhausrechnung für seinen Vater bezahlen. Zuvor war sein kleiner Supermarkt bankrott gegangen. Er hatte Schulden gemacht, die er nicht zurückzahlen konnte. Und das, obwohl er 210.000 Dollar auf der Bank hatte. Die gesamten Ersparnisse aus jahrelanger Arbeit in Australien und der Erlös aus einem Hausverkauf.

„Ich habe mein Gewehr geputzt und einen Kanister Benzin besorgt. Ich musste zeigen, dass ich es ernst meine. Schließlich kann man eine Bank nicht mit einem Becher Benzin überfallen. Ich hätte auch alle angezündet, schließlich ging es um mein Recht“, beginnt er seine Geschichte.

Der Hintergrund seiner Tat ist ähnlich wie bei Sally. Auch Bassem musste eine Krankenhausrechnung für seinen Vater bezahlen. Zuvor war sein kleiner Supermarkt bankrott gegangen. Er hatte Schulden gemacht, die er nicht zurückzahlen konnte. Und das, obwohl er 210.000 Dollar auf der Bank hatte. Die gesamten Ersparnisse aus jahrelanger Arbeit in Australien und der Erlös aus einem Hausverkauf.

Dutzende Male ging Bassem zu seiner Bank in der bekannten Hamra-Straße in Westbeirut, flehte den Filialleiter an, ihm sein eigenes Geld auszuzahlen. Am Ende gaben sie ihm nicht einmal die 400 Dollar, die pro Monat maximal abgehoben werden dürfen. Die Bank habe einfach keine Dollars, hieß es. Da platzte Bassam der Kragen. Er plante den Überfall. Um neun Uhr morgens am 11. August letzten Jahres parkte er sein Auto vor der Bank, ließ seine Waffe und den Benzinkanister im Wagen zurück und ging hinein, sozusagen als letzte Chance für die Bank, die Angelegenheit friedlich zu regeln. Erneut winkte der Filialleiter ab. Er habe Bassam doch schon erklärt, dass er nicht mehr kommen müsse. Er werde ihn anrufen, wenn es Geld gäbe.

Bassam ging zu seinem Auto zurück, um die Utensilien für den Überfall zu holen. Auf dem Überwachungsvideo ist er zu sehen, wie er schreiend in die Bank stürmt und ruft: „Gebt mir mein Geld zurück, ihr Hurensöhne“. Bassam schildert den Hergang lebhaft: „Ich habe die Tür der Bank laut zugeschlagen. Alle fingen an zu schreien, als sie meine Waffe und den Benzinkanister sahen. „Keiner bewegt sich“, rief ich und schüttete das Benzin über den Banktresen, die Computer und die Bankangestellten. Ich ging auf den Filialleiter zu, der sich so oft geweigert hatte, mir mein Geld auszuzahlen, richtete meine Waffe auf ihn und forderte ihn auf, den Tresor zu öffnen.“ Daraufhin begann eine siebenstündige Verhandlung, während der Bassam mit seinen Geiseln in der Bank ausharrte. „Zu Anfang boten sie mir 400 Dollar. Ich sagte, glaubt ihr, ich bin ein Idiot, ich mache das alles für 400 Dollar? Ich sagte, ich will meine 210.000 Dollar und drückte dem Filialleiter die Waffe ins Gesicht“.

„Gebt mir mein Geld zurück, ihr Hurensöhne“

Aus 400 Dollar wurden 5.000. Dann wurde weiteres Geld aus anderen Filialen herbeigeschafft. Am Ende gab sich Bassam mit 35.000 Dollar zufrieden. Diese wurden seinem Bruder zu Hause ausgezahlt, bevor er die Geiseln nach und nach freiließ und sich nach sieben Stunden selbst stellte. „Ich sagte, es ist vorbei, gab dem Filialleiter meine Waffe und öffnete die Tür.“ Er ging nach draußen. „Ich dachte, das gibt ein paar Jahre Gefängnis. Schließlich hatte ich eine Waffe, ich hatte Benzin bei mir und ich hatte Geiseln genommen, obschon niemand verletzt wurde. Aber ich habe mein Recht bekommen“, erinnert er sich. Doch draußen erwartete ihn nicht nur ein riesiges Polizeiaufgebot. Etwas weiter weg, weil die Straße abgesperrt war und vom Innenraum der Bank nicht zu sehen, standen die Medien und eine große Menschenmenge, die ihm zujubelte. Sieben Stunden hatte das ganze Land mit ihm gefiebert, während die libanesischen Fernsehsender live über den Überfall berichteten.

Auch die anschließenden Verhöre verliefen freundlich. „Selbst die Polizisten sagten zu Bassams Überraschung, er habe sich nur genommen, was ihm gehörte.

Aufgrund des öffentlichen Drucks wurde keine Anklage erhoben, und auch die Bank zog ihre Anzeige zurück. Freunde und Familie hatten der Bank gedroht, alle Geldautomaten in allen Filialen anzuzünden, sollte Bassam verurteilt werden.

 

 

Sallys Banküberfall verlief ähnlich. Sie ging mit Freunden in die Bank, die so taten, als gehörten sie nicht zusammen, dann aber laut schrien, als Sally die Bank betrat. Einer von ihnen filmte das Ganze und stellte es auf Facebook. Sally hob 14.000 Dollar von ihrem Konto ab. Sie bestand darauf, eine Quittung über die Abbuchung von der Bank zu erhalten. „Damit kein falscher Eindruck entsteht“, so Sally. Erst jetzt löste der Filialleiter den Alarm aus. Sally rannte zum Ausgang, warf die Spielzeugpistole weg und lief nach Hause, eine Straße weiter. Atemlos erreichte sie ihre Wohnung. „Welcher Bankräuber läuft vom Tatort zu Fuß direkt nach Hause?“ fragt sie ironisch. Da ihr Name und ihre Adresse der Bank bekannt waren, versammelte sich in kürzester Zeit ein großes Polizeiaufgebot in ihrer Straße. Sallys einziger Gedanke war, das Geld für ihre Schwester in Sicherheit zu bringen.

Was dann folgte, ist filmreif. Sally postete auf ihrem Facebook-Account, dass sie bereits am Flughafen sei. „Wir sehen uns in Istanbul“, schrieb sie. Daraufhin verließ ein Großteil der Polizisten die Straße in Richtung Flughafen. Sally steckte ihr Geld und ein Kissen unter ihre Kleidung, zog sich eine schwarze Abaya und ein Kopftuch an und rief einen Krankenwagen.

Dann rannte sie schreiend die Treppe herunter, angeblich von Wehen geplagt, als stünde eine Geburt bevor. „Hoffentlich wird es ein Junge“, rief sie den Polizisten noch zu und stieg in den Krankenwagen. Sie versteckte sich in einem Haus in der Bekaa-Ebene an der syrischen Grenze und stellte sicher, dass ihre Schwester das Geld bekam. Was sie am meisten erstaunte: In den nächsten Tagen wurden 15 Banküberfälle nach ähnlichem Muster gemeldet. Während ihres Überfalls, der für einen Facebook-Post gefilmt wurde, rief Sally die Menschen auf, es ihr gleich zu tun und sich zu holen, was ihnen gehörte. „Ich habe zu Gott gebetet, dass niemand eine Bank ausraubt und nimmt, was ihm nicht gehört, oder dass, Gott bewahre, sogar jemand verletzt wird“, erinnert sie sich noch heute mit Schrecken.

Nach 20 Tagen stellte sie sich. Wie Bassem wurde auch Sally als Volksheldin gefeiert. „Eines der merkwürdigsten Dinge war, dass mich der Untersuchungsrichter fragte, ob ich auch sein Geld aus der Bank holen könne.“ Sie lacht laut. Angeklagt wurde sie nie. Auch ihr Fall wurde aufgrund des öffentlichen Drucks vom Gericht ad acta gelegt. Ihre Bank zog die Anzeige zurück, weil sie den Zorn der Menschen fürchtete. Sally kam am gleichen Tag frei.

Manchmal geht sie noch heute an ihrer Bank vorbei und winkt den Angestellten zu. Am Anfang hatten sie noch Alarm ausgelöst, jetzt sperren sie einfach die Tür zu. Die Sicherheitsleute drinnen lachen und winken freundlich zurück. „Es hätte so viel schief gehen können, daran möchte ich heute gar nicht denken“, sagt Sally. „Aber ich habe es geschafft, dass meine Schwester ihre Behandlung bekommt. Schon deshalb bereue ich nichts.“

Und Bassam? Der bedauert bis heute nur, dass er nicht auch den Rest seines Geldes bekommen hat. „Was“, fragt er, „ist besser: Stehlen zu gehen oder eine Bank zu überfallen, um an sein Geld zu kommen?“

Karim El-Gawhary

© Qantara.de 2023

 

 

Lesen Sie auch:

Libanon nach den Explosionen in Beirut. Der Totalausfall des Staates 

Bilder der Verwüstung: Beirut am Tag nach der Explosion

Wirtschaftskrise im Libanon: Mit Solidarität und Humor gegen die Krise

Proteste in Beirut: Rufe nach einem Systemwechsel im Libanon 

Martin Accad: "Der Konfessionalismus ist die Tragödie des Libanon“