Irans vergeblicher Einsatz für die islamische Ökumene
Für Al-Qaida, den „Islamischen Staat“ und andere radikale sunnitische Gruppen sind Schiiten nicht einfach nur Angehörige einer abweichenden Strömung des Islam, sondern Ungläubige, die getötet werden müssen. Für diese Gruppen salafistisch-wahhabitischer Prägung sind Schiiten noch gefährlicher als Christen oder Juden, da sie sich als Brüder im Glauben ausgeben, dabei aber ihre eigenen subversiven Ziele verfolgen. Al-Qaida und Konsorten sehen in den Schiiten eine Bedrohung der islamischen Gemeinde, die beseitigt werden muss – notfalls mit Gewalt.
Im Irak sind schiitische Viertel, Märkte, Moscheen und Heiligtümer daher seit Jahren Ziel blutiger Anschläge. Zuletzt mehrten sich auch im Jemen, in Kuwait und im Osten Saudi-Arabiens die Attentate. Befeuert werden die Spannungen durch die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. In den Augen von Al-Qaida und ähnlicher Extremistengruppen sind die Schiiten dem Iran stärker verpflichtet als dem eigenen Land. Für sie sind Schiiten die fünfte Kolonne Teherans und dessen willigen Helfer im Kampf um die regionale Vorherrschaft.
Schreckensvision des „schiitischen Halbmonds“
Zwar distanziert sich Saudi-Arabien von Gruppen wie Al-Qaida, doch teilt die Staatsführung das Misstrauen der Terrororganisation gegenüber den Schiiten. Für das Königreich droht mit Irans wachsendem Einfluss im Irak, in Syrien und im Libanon die Schreckensvision eines „schiitischen Halbmonds“ Realität zu werden, vor dem Jordaniens König Abdullah einst warnte. Viele wahhabitische Geistliche lehnen die Schiiten zudem aus theologischen Gründen ab. Sie werfen ihnen vor, Imam Ali quasi als Gott zu verehren, ihre Imame dem Propheten gleichzustellen und den Koran zu verfälschen.
Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, Riad und Teheran sind so stark wie lange nicht mehr. Dabei versteht sich der Iran gar nicht als schiitischer, sondern als islamischer Staat. Seit ihrer Gründung 1979 sieht sich die Islamische Republik als Vorkämpfer einer neuen Ordnung für alle Muslime. Auch wenn der Eifer für den bewaffneten Export der Revolution längst einer pragmatischen, nationalistischen Politik gewichen ist, begreift sich der Iran immer noch als Verteidiger der Muslime gegen den Imperialismus – aller Muslime wohlgemerkt, nicht nur der Schiiten.
Einsatz für theologische und politische Annäherung
Seit der Revolution 1979 setzt sich die Islamische Republik für die theologische und politische Annäherung von Sunniten und Schiiten ein. Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini verbot es, in Reden und Predigten die Sunniten zu verunglimpfen, und wies die iranischen Pilger an, während der Hadsch in Mekka gemeinsam mit den Sunniten zu beten. Im Jahr 1982 wurde zudem eine jährliche „Woche der Einheit“ eingeführt, um durch Konferenzen und öffentliche Kundgebungen den Dialog zwischen den Konfessionen zu fördern.
Khomeinis Nachfolger Ayatollah Ali Khamenei ging dann noch einen Schritt weiter und gründete 1991 den Weltverband für die Annäherung der islamischen Rechtsschulen (Majma‘-e jahani taqrib-e madhab-e eslami). Die Organisation mit Sitz in Teheran wird heute von Ayatollah Mohsen Araki geleitet, einem 1955 im irakischen Nadschaf geborenen Geistlichen. Neben der „Woche der Einheit“ organisiert sie Konferenzen, veröffentlicht Zeitschriften und ist zudem dabei, eine Universität der islamischen Rechtsschulen aufzubauen.
Diskriminierung religiöser Minderheiten
Nach eigener Darstellung haben tausende Gelehrte aus aller Welt an ihren Veranstaltungen teilgenommen. Tatsächlich ist die Außenwirkung der Majma‘-e taqrib nach Ansicht westlicher Experten wie Wilfried Buchta aber begrenzt. Zwar kommen immer mal wieder auch prominente arabische Sunniten zu ihren Konferenzen, doch die meisten Teilnehmer stammen nicht aus der arabischen Welt. Viele Sunniten verdächtigen die Organisation trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen, die Überlegenheit des Schiismus beweisen oder gar die Konversion von Sunniten betreiben zu wollen.
Nicht ganz zu Unrecht sehen viele Sunniten im Eintreten des Iran für die islamische Ökumene Schaufensterpolitik, die sich in öffentlichen Absichtserklärungen erschöpft. Demnach dient sie in erster Linie dazu, die Isolation des Irans zu durchbrechen. Der Einsatz für die Ökumene klingt für viele Sunniten auch deshalb hohl, weil die Verfassung von 1979 den Islam der schiitisch-dschafaritischen Rechtsschule als Staatsreligion festlegt. Die sunnitische Minderheit im Iran ist entsprechend kaum in der Politik vertreten und wird auch im religiösen Bereich systematisch diskriminiert.
Vorbehalte gegenüber Sunniten
Hinzukommt, dass der Einsatz für die Ökumene zwar offizielle Politik im Iran ist, aber keineswegs von allen schiitischen Geistlichen unterstützt wird. Auch wenn kein Schiit jemals Sunniten zu Ungläubigen erklären würde, sind unter dem orthodoxen Klerus im Qom die Vorbehalte gegenüber einer Annäherung an die Sunniten groß. Während der sunnitische Scheich al-Azhar Mahmud Shaltut 1959 in einem bahnbrechenden Schritt die dschafaritische Rechtsschule als gleichberechtigt mit den vier sunnitischen Rechtsschulen anerkannte, steht eine entsprechende Fatwa schiitischer Geistlicher bis heute aus.
Ein weiteres Problem der iranischen Ökumene-Politik ist, dass sie Wahhabiten ausdrücklich ausschließt. Die Majma‘-e taqrib steht der in Saudi-Arabien vorherrschenden Strömung des Islam nicht nur kritisch, sondern feindlich gegenüber. Wahhabiten gelten vielen Iranern als Sektierer, die Streit unter den Muslimen sähen, und als unkultivierte Wüstenbewohner, die in die Zeit der vorislamischen Unwissenheit zurückgefallen sind. Zudem wird ihnen vorgeworfen, sich mit den Imperialisten verbündet und Palästina den Zionisten überlassen zu haben.
Das Hauptproblem der Ökumene-Politik von schiitischer wie sunnitischer Seite ist aber wohl, dass sie am Kern des Konflikts vorbeigeht. Sicherlich spielen theologische Streitfragen im Irak, in Syrien oder im Jemen eine wichtige Rolle, um Unterschiede zwischen den Konfessionsgruppen zu markieren und zu rechtfertigen. Sicherlich ist es wichtig, den Dialog zu pflegen und sich gegenseitig als Muslime anzuerkennen. Doch im Kern sind die Konflikte politischer Natur. Ohne politische Lösung wird es daher wohl auch keine theologische Annäherung geben.
Ulrich von Schwerin
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